Als ich mit Mitte Zwanzig zum ersten Mal gezwungen war darüber nachzudenken, mir Hörgeräte zu kaufen, da hatte ich keine Ahnung davon, wie man eigentlich welche bekommt. Wie den meisten Menschen in der Situation dachte ich mir, dass das ähnlich abläuft wie wenn man eine Brille bekommt. Man geht zum Arzt, macht einen Test, kriegt ein Rezept, geht zum Optiker, macht nochmal einen Test, sucht sich einen Rahmen aus und die Woche drauf holt man sich seine Brille ab.
Leider ist das mit Hörgeräten nicht so einfach. Damals hätte ich gerne gewusst, was auf mich zu kommt und wie viel Geduld ich hätte mitbringen sollen. Dieser Artikel beschreibt den Prozess des Hörgeräte-Bekommens im Detail, damit ihr wisst, was euch erwartet.
(optional) Schritt 0: Hörtest beim Akustiker
Der offizielle erste Schritt ist der Gang zum Arzt. Allerdings bieten viele Akustiker einen kostenlosen und unverbindlichen Hörtest an. Dafür muss man dann oft nicht einmal einen Termin ausmachen und auch in keinem Wartezimmer sitzen oder eine Praxisgebühr bezahlen. Wenn du also schon die Ahnung hat, dass du nicht mehr gut hörst, aber das erstmal unverbindlich herausfinden möchtest, dann ist dieser Service von Akustikern eine gute Wahl.
Der Akustiker bei dem du diesen Test machst muss übrigens nicht der gleiche sein bei dem du anschliessend Hörgeräte kaufst, auch wenn er das natürlich gerne hätte.
Schritt 1: Hörtest beim HNO-Arzt
Ob du nun vorher einen Test beim Akustiker gemacht hast oder nicht, der offizielle erste Schritt ist dann ähnlich wie bei der Brille ein Besuch beim Arzt. Wenn du bei deinem HNO-Arzt auftauchst und ihm erzählst, dass du das Gefühl hast, nicht mehr gut zu hören, dann geht das Prozedere los. Er wird mehrere Hörtests machen (mindestens eine Hörschwellenmessung und eine Messung der Unbehaglichkeitsschwelle). Wenn aus diesen ersichtlich ist, dass dein Hörverlust groß genug ist und durch Hörgeräte kompensiert werden kann (was nicht bei jedem Hörverlust der Fall ist), dann wird er dir eine Hörgeräte-Verordnung ausstellen und dich zum Akustiker schicken.
Schritt 2: Wahl des Akustikers
Mit der Verordnung ausgestattet, stehst du nun vor der Wahl eines Akustikers. Wenn es deine ersten Hörgeräte sind, hast du vermutlich keine Ahnung wonach du den denn aussuchen sollst. Ich fand das damals in der Tat ein großes Problem, daher habe ich alle meine Erfahrungen in meiner Artikel-Reihe (Wie findet man einen guten Akustiker? Teil 1, 2, 3, 4, und 5) zusammengefasst. Ich hoffe dass es dir damit leichter fällt als mir damals.
An dieser Stellte möchte ich anmerken, dass du zu jedem Zeitpunkt bevor du die Hörgeräte gekauft hast noch den Akustiker wechseln kannst. Solltest du zum Beispiel dass Gefühl haben, dass du nicht genug testen konntest oder dass er die Hörgeräte nicht gut eingestellt bekommt, dann bist du ihm zu nichts verpflichtet.
Du wirst für Hörgeräte vermutlich viel Geld ausgeben und dieser Betrag ist das was der Akustiker an dir in den nächsten 6 Jahren verdient. Das heißt im Umkehrschluss, dass du dir gut aussuchen solltest, für wen du dich für die nächsten 6 Jahre entscheidest.
Schritt 3: Hörtest beim Akustiker
Beim ersten oder zweiten Termin beim Akustiker wird er einen ausführlichen Hörtest machen. Meiner Erfahrung nach sind Akustiker beim Hörtest sehr viel gründlicher als der HNO-Arzt. Das mag daran liegen, dass der Arzt „nur“ ein paar Datenpunkte für eine Diagnose braucht. Dein Akustiker hingegen sollte sehr viel gründlicher testen, denn das Ergebnis fließt mit Hilfe seiner Software in die Einstellungen der Hörgeräte ein. Daher gilt hier: je genauer getestet, desto besser können die Hörgeräte eingestellt werden.
Der Akustiker macht hier auch mehrere Arten von Hörtests, die gleichen die der Arzt macht und dazu noch den Sprachverständlichkeitstest und den Test der Knochenleitung.
Schritt 4: Mehrere Hörgeräte testen
Nun geht die Phase los, in der du mehrere Hörgeräte testen darfst. Die Geräte können vom gleichen oder von verschiedenen Herstellern sein. Es ist normal, dass man so 2-5 Geräte testen darf, aber im Prinzip gibt es hier keine Obergrenze – außer die Geduld deines Akustikers.
Grobeinstellung
Das Testen funktioniert so: du bekommst jeweils ein Paar Hörgeräte (bei beidseitigem Hörverlust) mit den Daten deines Hörtestes „grob“ eingestellt. „Grob“ heißt hier, dass dein Akustiker hier seine Software den Hauptteil machen lässt. Die Software der meisten Hersteller ist mittlerweile so gut, dass auf Basis des Hörtestes schon eine ganz gute erste Anpassung möglich ist.
Rückkopplungsmessung
Das Anpassen durch die Software beinhaltet auch meistens eine Rückkopplungsmessung. Dafür musst du die Hörgeräte tragen während sie mit der Software verbunden sind. Dann spielt die Software ein paar relativ nervige schräge Töne ab und misst gleichzeitig, ob es eine Rückkopplung gibt. Wenn ja, passt die Software selbstständig noch die Parameter an um später Rückkopplungen zu verhindern.
Dann wirst du mit den Hörgeräten eine bis zwei Wochen auf die Welt „losgelassen“. Nach dieser Zeit kommst du wieder und besprichst wie es dir ergangen ist mit deinem Akustiker. Daraufhin entscheidet ihr, ob du deine Wahl auf dieses Gerät fällt, oder ob du ein weiteres testen möchtest.
Die Testzeit von 1-2 Wochen ist eine grobe Vorgabe. Auch hier sind die Akustiker manchmal flexibel. Wenn man z.B. genau in der Woche der Rückgabe in Urlaub ist, so kann man den nächsten Termin auch etwas nach hinten verschieben.
Ausleihversicherungen
In dieser Testzeit gehören die Hörgeräte noch dem Akustiker, du hast sie also nur ausgeliehen. Dementsprechend solltest du auch gut auf sie aufpassen. Es kann sein, dass dir dein Akustiker eine kleine Versicherung anbietet gegen Verlust oder Beschädigung der Hörgeräte während der Testzeit. Ich habe diese nie in Anspruch genommen, denn ich halte das für eine Masche der Akustiker hier noch ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen.
Die Testphase von Hörgeräten ist ein Teil des Prozesses, den du gar nicht umgehen kannst. Wenn dann sollte diese Absicherung von der Krankenkasse gestellt werden, denn diese muss ja deine Hörgeräteversorgung sicher stellen. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass deine ganz normale Haftpflichtversicherung hier bei unabsichtlichem Verlust oder Beschädigung greifen muss, denn das tut sie (normalerweise) für Dinge die man sich ausleiht. Wenn du ganz sicher sein willst, schau nochmal in die Bedingungen deiner Haftpflichtversicherung hinein.
Tips zum Testen
Diese Testphase von Hörgeräten ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten in dem ganzen Prozess. Ich werde in einem späteren Artikel noch in die Details gehen, wie du hier am meisten für dich herausholen kannst. Hier schonmal die wichtigsten Tipps in Kürze:
- Versuche in der Testzeit jedes Hörgerätes möglichst viele verschiedene akustische Situationen zu testen, besonders die die dir ohne Hörgeräte am meisten Probleme bereiten, z.B. ein Gespräch in lauter Umgebung (siehe Cocktailparty-Effekt) oder zu telefonieren.
- Lass dich parallel schonmal von deinem Akustiker zu Accessoires und Verbindungsmöglichkeiten beraten. Wenn möglich, teste diese gleich mit. Wenn du zum Beispiel einen Bluetooth-Adapter zum Telefonieren bekommst, dann kannst du in dieser Testphase gleich mit testen ob der mit deinem Mobiltelefon funktioniert.
- Generell ist die Auswahl von Hörgeräten leider nicht einfach. Es sind hochkomplexe technische Geräte mit vielen Optionen zwischen denen man wählen kann. Es hilft hier, wenn du dich selbst auf den Webseiten der Hörgeräte-Hersteller informierst was es denn alles so gibt. Außerdem hoffe ich, dass dir der ein oder andere Artikel in diesem Blog hilft (speziell zur Auswahl zum Beispiel Bauformen oder Ohrstücke).
Schritt 5: Für ein Hörgerät entscheiden
Nachdem du nun jeweils ein wenig Zeit hattest, verschiedene Geräte zu testen, so wirst du vermutlich langsam einen Favoriten haben. Eventuell ist es genau das Gerät was du getestet hast, aber manchmal ist es vielleicht das Gerät mit ein paar Abweichungen. Abweichungen können zum Beispiel sein, dass du ein Gerät mit Akkus getestet hast, das Gerät toll fandest, aber dir die Akkulaufzeit nicht reicht und du deshalb lieber das gleiche Gerät mit Batterien haben möchtest. (In diesem Zusammenhang siehe Warum wiederaufladbare Hörgeräte (noch?) nicht das Wahre sind). Oder du fandest die Geräte zwar gut, aber möchtest eine Variante mit mehr Verbindungsmöglichkeiten.
Außerdem kann es sein, dass du Gründe gefunden hast, ein auf dich angepasstes Ohrstück zu bestellen. Dafür wird dann auch ein Abdruck von deinen Ohren gemacht.
Deine Wahl solltest du mit deinem Akustiker besprechen und er bestellt dir dann genau das Gerät was du haben möchtest.
Farbwahl
An dieser Stelle darfst du dir vermutlich auch eine Farbe aussuchen. Hier sind die meisten Hersteller sehr zaghaft und bieten nur ein übliches Set an Haut- und Haarfarben an. Ich persönlich lege dir aber ans Herz, ein Hörgerät durchaus als modisches Accessoire zu sehen, und durchaus zu mutigeren Farben zu greifen. Für mehr Gedanken zu dem Thema, siehe Sichtbarkeit von Hörgeräten.
An dieser Stelle noch der Hinweis, dass es auch jetzt noch möglich ist, dass du dich nochmal umentscheidest. Solltest du doch feststellen, dass die Wahl doch nicht richtig war, kannst du jederzeit wieder zurück zu Schritt 4 und weitere Alternativen testen.
Schritt 6: Feinanpassung
Nun kommt der Tag, an dem deine Hörgeräte ankommen. Nun beginnt der interessante Teil der Arbeit eines Akustikers, die Feinanpassung. Beim Testen der Geräte hast du ja nur eine erste schnelle Anpassung mit Hilfe der Software bekommen. Diese reicht oft schon weit, aber ein guter Akustiker kann hier noch sehr viel rausholen. Er nimmt dafür die Einstellungen der Software als Grundlage und justiert hier und da noch etwas nach, um die Hörgeräte bestmöglichst an deinen Hörverlust anzupassen.
Hier beginnt die Kunst des Akustikerberufes. Er muss aus Angaben die du ihm machst, wo etwas noch nicht gut funktioniert, schließen, welche Regler er dafür in der Software betätigen muss. Wenn du ihm zum Beispiel sagst „Ich verstehe meine kleine Schwester noch nicht gut“, dann wird er besonders an den hohen Frequenzen noch etwas nachlegen.
Jedes Mal, wenn der Akustiker eine Feinanpassung vorgenommen hat, wird er dich wieder 1-2 Wochen mit den neuen Einstellungen in die Welt schicken. Diese solltest du dann testen und mit neuen Informationen, wo noch etwas hakt, zurückkommen. Das ganze geht dann meistens ein paar Wochen, bis du den Eindruck hast, dass es alles für dich passt.
Leise anfangen
Wenn es übrigens deine allerersten Hörgeräte sind, so wird dein Akustiker noch einen „Trick“ anwenden. Am Anfang klingt das erste Hörgerät immer sehr schrill oder blechern. Das kommt daher, dass wenn du schon länger nicht gut hörst, dein Gehirn vergessen hat wie viele Geräusche klingen. Es muss also zum Teil wieder neu hören lernen. Dafür braucht unser Gehirn etwas Zeit, meistens mehrere Wochen.
Wenn man nun das erste Hörgerät gleich am Anfang auf die volle benötigte Lautstärke stellt, so wird das die meisten Leute in den Wahnsinn treiben. Wir müssen unserem Gehirn etwas Zeit geben, sich an die wieder neuen Geräusche zu gewöhnen. Das tut der Akustiker, in dem er die Hörgeräte am Anfang leiser stellt als du sie eigentlich brauchst. So klingt es am Anfang nicht so schlimm und du wirst sie damit als angenehm empfinden. Mit jeder Feinanpassung stellt der Akustiker sie dann auch wieder etwas lauter. So lange, bis du am Ende die Lautstärke hast, die deinen Hörverlust auch gut ausgleicht.
Schritt 7: Abschlussmessung und Abrechnung
Wenn deine Hörgeräte nun also fein angepasst sind und du auch alle Teile (z.B. Ohrstücke und Ladegeräte) und Accessoires zusammen hast, dann geht es an die Abschlussmessung. Diese ist in erstere Linie da damit dein Akustiker deiner Krankenkasse beweisen kann, dass die Versorgung mit Hörgeräten deinen Hörverlust gut genug ausgleicht. Denn nur dann bekommen sie auch hier Geld.
Die Abschlussmessung besteht wieder aus unterschiedlichen Hörtesten, die du jetzt bereits kennst. Besonders wichtig ist hier der Sprachverständlichkeitstest, denn der sagt am meisten darüber aus, ob du nun die Wörter die du zu Beginn nicht verstanden hast, nun verstehen kannst.
Danach geht es an die Abrechnung, denn die Bemühungen des Akustikers sollten natürlich auch entlohnt werden.
Schritt 8: Nachanpassungen
Auch wenn dich dein Akustiker nun endgültig in die Welt mit deinen neuen Geräten entlässt, so ist er nicht aus der Welt. Solltest du nach Abschluss des Kaufes noch Probleme haben, so kannst du jederzeit nochmal einen Termin machen um weitere Anpassungen vorzunehmen.
Manche Akustiker bieten auch ein zusätzliches, kostenpflichtiges Service-Paket an, womit du nicht nur wegen ein paar Software-Parametern nochmal kommen darfst, sondern auch wenn du zum Beispiel doch nochmal andere Ohrstücke brauchst, weil die ersten nach ein paar Wochen Druckstellen hinterlassen haben.
Schritt 9: Regelmäßige Kontrolle
Du kaufst Hörgeräte immer für 6 Jahre. Das ist eine relativ lange Zeit in der viel passieren kann. Insbesondere könnte es sein, dass dein Gehör nochmal etwas schlechter wird. Daher und aus vielen anderen Gründen solltest du ungefähr einmal im Jahr bei deinem Akustiker vorbeischauen, damit der nochmal alles kontrollieren kann. Das ist ein wenig so wie die Inspektion beim Auto. Meistens bietet dein Akustiker auch gleich mit an, die Geräte nochmal gründlich zu säubern und eventuelles Verbrauchsmaterial wie Schläuche durch neue zu ersetzen. Auch wird die Akustiker-Software diese Gelegenheit nutzen um Updates für die Algorithmen in den Hörgeräten einzuspielen.
Ich empfehle dir sehr, diese regelmäßigen „Wartungstermine“ wahrzunehmen. Nur so bekommst du die beste Hörgeräteversorgung die du für dein Geld kriegen kannst.
Fazit
Ich hoffe ich habe dir mit diesem Artikel beschreiben können, was dich genau erwartet, wenn du Hörgeräte bekommst. Es ist leider nicht so einfach wie eine Brille zu bekommen. Du brauchst Geduld und auch die Energie dich auf den Prozess einzulassen. Nimm dir Zeit und schaffe Gelegenheiten um alles ausführlich zu testen bevor du dich entscheidest. Informiere dich gut über alle Optionen. Arbeite eng zusammen mit deinem Akustiker, denn nur wenn er von dir viel Feedback bekommt, kann er die Hörgeräte maximal gut für dich einstellen.
Und zu guter letzt: sei hartnäckig, wenn dich dein Akustiker hier schnell „abfertigen“ möchte. Du bezahlst gutes Geld für Geräte die sehr wichtig für dein Leben sein werden, da solltest du auch die besten Ergebnisse erhalten.
Ein sehr guter informativer Beitrag! Empfehlenswert!
Glücklicherweise bin ich auf diesen Blog gekommen: Danke, mir bisher unbekannte Helga, für Deine lesenswerten Ausführungen! Ich habe noch nicht alles von dir gelesen, werde jedoch weiter hier surfen und Deinen Blog wärmstens weiterempfehlen: ich habe mir schon geschworen, mit meiner nächsten Inkarnation Akustiker zu werden; das Gebaren dieser Industrie scheint mir ein abgekartetes Verwirrspiel zu Lasten der Verbraucher zu sein. So ist es zB ziemlich schwierig, „authentische“ Berichte zu Hörgeräten im Netz zu finden… Selbst Internet-URLs, die vorgeben, von betroffenen Menschen zu berichten (zB getarnt als „Selbsthilfegruppen-Info“ etc.) sind wohl eher Marketing-„Maschinen“ und nicht wirklich an den Hörgeschädigten und deren notwendigen Entscheidungsprozessen interessiert – Hauptsache: teuer verkaufen. – Daher: besten Dank/ Merci für Deine Berichterstattung, (mir bislang unbekannte) Helga!
Lieben Dank fuer deinen Kommentar! Es freut mich sehr, dass du meinen Blog als hilfreich empfindest!
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