Apple ist ein beliebter Hersteller von Im-Ohr-Kopfhörern für hörende Menschen. Seit Ende Oktober haben sie ihrem neuesten Produkt, den AirPods Pro 2, Hörgerätefunktionen verpasst. Diese entsprechen den offiziellen Standards der amerikanischen Zertifizierung für Hörgeräte für leicht bis mittelgradige Schwerhörigkeit.
Diese Entwicklung wurde von uns Schwerhörigen und der Hörgeräte-Branche mit Spannung erwartet. Mittlerweile gibt es Testberichte der neuen Funktion, aber die wenigsten dieser Berichte kommen von Schwerhörigen selbst. Das wollte ich ändern und so habe ich eine Woche lang die Airpods als Hörgeräte getragen und genauso ausgiebig getestet, wie ich es bei der Auswahl neuer Hörgeräte tun würde (siehe auch Wie testet man Hörgeräte richtig?). Ich habe mich bewusst in verschiedene und zum Teil akustisch herausfordernde Situationen begeben und sie mit meinen bisherigen Erfahrungen mit “klassischen” Hörgeräten verglichen.
Die Geräte und ihre Ladeschale
Die Airpods punkten mit gutem Produktdesign. Sie sind klein und chic und liegen schön schwer in der Hand. Das trifft auch auf die Ladeschale zu, die sich eben so gut und “wertig” anfühlt. Die Ladeschale ist zugleich auch Powerbank, also hat sie selbst einen Akku, den du laden kannst und von dem du unterwegs die Airpods nachladen kannst. Das Prinzip gibt es auch bei einigen klassischen Hörgeräten, allerdings habe ich noch keine Ladeschalen-Powerbank gesehen, die so klein ist, dass sie buchstäblich in die Hosentasche passt.
Die Airpods sind knubbelige Im-Ohr-Kopfhörer. Das heißt, ähnlich wie Im-Ohr-Hörgeräte, steckst du sie nur ins Ohr und hast kein Bauteil hinter den Ohren. (Für mehr Informationen zu Bauformen von Hörgeräten siehe Bauformen von Hörgeräten). Die Airpods sind im Gegensatz zu Im-Ohr-Hörgeräten allerdings sehr viel größer und ragen heraus. Dieses Design nennt man Earbuds und es gibt bereits von manchen Herstellern Hörgeräte in ähnlichem Design. Dass sie so sichtbar sind, ist erfrischend gewollt, im Vergleich zu klassischen Hörgeräten, die die meisten Hersteller immer noch verstecken möchten. Die Airpods sind sozusagen ein Statement gegen das Stigma – chic und sichtbar. Ich liebe das, weil ich ja schon lange für mehr Sichtbarkeit von Hörgeräten werbe, z.B. in Sichtbarkeit von Hörgeräten.
Zu Beginn der Testphase hatte ich Sorge, dass es unhöflich wirkt, die Geräte während eines Gesprächs im Ohr zu lassen, weil meine Gesprächspartner denken könnten, dass es ja nur normale Kopfhörer sind. Es hat mich aber niemand drauf angesprochen, anscheinend ist die Welt an „durchlässige“ Kopfhörer gewöhnt. Ich hatte allerdings keine Gelegenheit, sie mal auf einer Familienfeier zu tragen, vielleicht hätte Onkel Bernd mich da wirklich angemeckert.
Vom Sitz her fand ich sie erstaunlich bequem, wenn auch nicht an meine Hörgeräte heranreichend, weil sie keine angepassten Ohrstücke haben. Selbst das Tragen von Mütze und Maske stellte kein Problem dar.
Gewöhnungsbedürftig bei den Airpods ist der Okklusionseffekt. Die Airpods sind sozusagen “zu” und verschließen den Gehörgang, ähnlich wie bei Ohrstücken ohne Belüftungsloch. Das führt dazu, dass die körpereigenen Geräusche wie Kauen sehr viel lauter klingen, z.B. würde ich damit nicht beim Fernsehen snacken können. Auch beim Spazierengehen hatte ich das Gefühl, ich würde meine eigenen Schritte auf den Boden “stampfen” hören. Mehr zum Thema Ohrstücke findet ihr auch hier: Ohrstücke: Otoplastiken oder Schirmchen?
Das Einrichten als Hörhilfe
Zum Einrichten der Airpods als Hörhilfe brauchst du ein kompatibles iPhone (eine Liste findest du hier), dem du deinen Hörverlust mit Hilfe eines Hörtestes mitteilt. Das kannst du über eine Hörtestfunktion des iPhones machen oder eine spezialisierte App namens “Mimi” dazu verwenden. Alternativ kannst du auch ein Audiogramm, welches du noch vom letzten Besuch bei der Akustikerin oder HNO-Ärztin hast, abfotografieren oder gleich ein Audiogramm komplett selbst eintippen. Hast du dem iPhone seinen Hörverlust mitgeteilt, so braucht es nur einen Klick, um die Airpods an diesen anzupassen und die Hörgerätefunktion zu aktivieren.
Die Hörhilfefunktion wird dir nur angeboten, wenn du (nach WHO Definition) leicht- bis mittelgradig schwerhörig bist, d.h. wenn der Durchschnitt der Frequenzen deines Audiogramms zwischen 20dB und 60dB liegt. Liegst du darunter, bekommst du vom iPhone nur die Möglichkeit, das Abspielen von Medien auf dem Handy ein wenig zu beeinflussen. Liegt der Durchschnitt deiner Frequenzen unter 60db aber einzelne Frequenzen darüber, bekommst du (wie in meinem Fall) die Hörgerätefunktion trotzdem angeboten, allerdings werden die Frequenzen, auf denen der Hörverlust höher als 60dB sind, nicht hinreichend verstärkt.
Danach kannst du noch, wenn du möchtest, ein bisschen nachjustieren – in dem Rahmen, wie das auch Apps von klassischen Hörgeräten anbieten. Zum Beispiel kannst du den Klang heller oder spitzer machen, die Hintergrundgeräuschunterdrückung regulieren und den Fokus nach vorne einstellen.
Die Signalverarbeitung
Das wichtigste Kriterium beim Testen von Hörhilfen ist die Signalverarbeitung (siehe auch Wie testet man Hörgeräte richtig?). Die Airpods verhalten sich hier wie erwartet und passen die Verstärkung gut an den eingegebenen Hörverlust an. In den meisten alltäglichen Situationen fand ich sie akzeptabel verglichen mit einem Niedrig- bis Mittelklassehörgerät, aber nicht beeindruckend. Bei manchen Features liegen sie deutlich hinter klassischen Hörgeräten hinterher, z.B. wurden Windgeräusche kaum gedämpft und Impulsgeräusche wie das Klirren von Besteck eher unangenehm laut verstärkt (siehe auch Hören ohne Spitzen – Impulsschallunterdrückung). Hier möchte ich allerdings betonen, dass du diese Eigenschaften bei klassischen Hörgeräten auch nur durch Zuzahlung erhälst. Wenn du allerdings höherklassige Hörgeräte gewohnt bist, wirst du diese Situationen eher als einen Rückschritt empfinden.
Sehr beeindruckt haben mich die Airpods bei der Hintergrundgeräuschunterdrückung und der Fokussierung nach vorne. Bei einem sonntäglichen Brunch in einem vollen Restaurant habe ich beides maximiert und ich hatte im ersten Moment das Gefühl, dass der Tisch, an dem ich mich mit meinen Freunden befand, der einzige im Restaurant ist. Alle Menschen um uns herum und die Musik im Hintergrund waren verschwunden. Das führte dazu, dass ich im Gespräch mit meinen Freunden selbst so leise redete, dass sie wiederum Schwierigkeiten hatten, mich zu verstehen – eine Situation, die mir sonst selten passiert. Mehr zu dieser Geräuschsituation, und warum sie für uns so schwierig ist, gibt es hier: Der Cocktailparty-Effekt.
Airpods sind immer schon gute Kopfhörer zum Musikhören gewesen, während klassische Hörgeräte auf Sprachverstehen optimieren. Zwar kannst du dir bei höherklassigen Hörgeräten ein Musikprogramm einrichten lassen, aber das kommt beim Abspielen von Musik via Bluetooth nicht zum Einsatz und meistens fehlt Hörgeräten sowieso ein satter Bass. Die Airpods kombinieren beides: Verstärkung für den Hörverlust und gute Kopfhörer zum Musikhören. Als ich das erste Mal mit den Airpods Musik gehört habe, kamen mir die Tränen weil es schön klang. Ich könnte mir vorstellen, nur zum Musikhören die Airpods als Zweithörgeräte zu nutzen. Mehr zum Thema Musik und Hörgeräte gibt es hier: Warum Musikgenuss mit Hörgeräten eine Herausforderung ist und Besserer Musikgenuss mit Hörgeräten.
Kompatibilität und Akkulaufzeit
Grundsätzlich kannst du die Airpods als Kopfhörer auch mit Geräten verbinden, die nicht von Apple sind, z.B. Android-Telefone und -Tablets. Du brauchst nur zum Einrichten der Hörgerätefunktion ein kompatibles iPhone. Nutzt du die Airpods auf einem Android-Handy, so kommst du jedoch nicht den Genuss weiterer Optimierungen für Sprache und Musik beim Abspielen von Medien auf dem Handy.
Auch Laptops von anderen Herstellern als Apple sind kein Problem für die Airpods – im Gegensatz zu Hörgeräten. Bei allen Hörgeräten außer denen von Sonova brauchst du einen separaten Adapter, den du dann mit dir herumtragen musst und der preislich oft die Kosten der Airpods übersteigt. Nicht nur sind die Airpods kompatibel zu allem was Bluetooth kann, sie sind es auch wirklich gut. Bluetooth mit Hörgeräten ist oft eine ziemliche Frickelei, bis man es ans Laufen kriegt. Die Airpods verbanden sich immer sofort und ohne Probleme. Mehr zum Thema gibt es hier: Was an Bluetooth-Hörgeräten nervt.
Mit der Kompatibilität kommt allerdings auch das Problem der Akkulaufzeit. Die Airpods versprechen hier ca. 5.5 Stunden. Akku-Hörgeräte versprechen heutzutage bis zu 30 Stunden, allerdings wenn du 8 Stunden streamst (z.B. einen ganzen Arbeitstag voller Videokonferenzen), bist du schnell nur bei knapp 20. Auch kannst du bei Hörgeräten nach ein paar Jahren den Akku wechseln lassen, während die Airpods leider “Wegwerfprodukte” sind. Eine Batterie-Version gibt es von den Airpods nicht, von Hörgeräten immerhin noch – mehr dazu auch in Warum wiederaufladbare Hörgeräte (noch?) nicht das Wahre sind.
Fazit
Die Apple Airpod Pro 2 Hörgerätefunktion ist ein beeindruckender Anfang, aber meiner Meinung nach (noch?) kein vollwertiger Ersatz zu klassischen Hörgeräten. Sollte Apple allerdings in den nächsten Jahren die Signalverarbeitung und die Akkulaufzeit verbessern, so werden sie mit so manchem Hörgerät mithalten können, besonders was das Preis-Leistungsverhältnis angeht.
Airpods punkten vor allem beim chicen Design, durch guten Sound bei Musik und Störlärmunterdrückung, und dass du sie ohne Hürden überall kaufen und selbst einstellen kannst.
Was bei den Airpods im Gegensatz zu Hörgeräten fehlt: die perfekt sitzenden Otoplastiken und Signalverarbeitung. Nur eine gute Akustikerin kann letztere über die Standardwerte der Software exakt an deinen Hörverlust anpassen, was besonders wichtig ist bei ungewöhnlichen Hörkurven. Beachte beim Kauf eines Hörgerätes auch den Service der AkustikerInnen, welche sich wohnortnah und gut ausgebildet um dich kümmern – das bekommst du bei Apple nicht. Außerdem werden die Airpods wahrscheinlich immer auf das Segment der leicht bis mittelgradigen Schwerhörigkeit beschränkt bleiben.
Zusammenfassung: für wen sind die Airpod Pro 2 als Hörgeräte geeignet?
Solltest du mit dem Gedanken spielen, dir Airpods zuzulegen, so prüfen, ob folgendes auf dich zutrifft:
- Du bist schwerhörig, aber hast bisher noch keine Erfahrung mit Hörgeräten und suchst eine niederschwellige und relativ günstige Möglichkeit, dich an das Thema heranzutasten.
- Dein Hörverlust ist nach WHO Definition zwischen leicht und maximal mittelgradig, d.h. die Frequenzen in deinem Audiogramm liegen zwischen 20dB und 60dB.
- Du hast ein kompatibles iPhone, oder zumindest zeitweise Zugang zu einem, um die Hörgerätefunktion einzurichten. Du bist mit der Bedienung von Mobiltelefonen vertraut oder hast jemanden, der dir dabei helfen kann.
- Du bist mit der verfügbaren Akkulaufzeit von ca. 5 Stunden zufrieden.
- Du möchtest die AirPods nur zum Musikhören oder für gelegentliche Videokonferenzen von beliebigen Endgeräten, oder als Zweithörgerät wenn dein eigentliches in Reparatur ist.
- Dich stört der Okklusionseffekt nicht oder du bist gewillt, dich an diesen zu gewöhnen.
Noch mehr Fragen?
Sollte dich das Thema Airpods interessieren und du möchtest noch mehr erfahren und eventuell auch noch ein paar Fragen loswerden? Dazu gibt es bald Gelegenheit. Anfang Februar gebe ich in Zusammenarbeit mit der Pro Audito Schweiz ein kostenloses Webinar (= Online Seminar) über meine Erfahrungen mit den Airpods. Mehr Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung findet ihr hier.
Seit Anfang 2022 schreibe ich als freie Autorin für das Dezibel. Dieser Artikel ist ursprünglich in einer abgewandelten Form in der Dezibel Ausgabe 2024 Nr. 4 erschienen. Dezibel ist die Mitgliederzeitschrift von Pro Audito, der führenden Anlaufstelle für die 1,3 Millionen Menschen mit Schwerhörigkeit in der Schweiz, http://www.pro-audito.ch.