Milder Hörverlust

Oder: Ab wann macht ein Hörgerät Sinn?

Irgendwann kommt der Tag, an dem du vielleicht feststellst „Hm, irgendwie klappt das mit dem Hören manchmal nicht mehr gut.“ So geht es vielen von uns und meistens ist das der Zeitpunkt, an dem wir zum Akustiker oder HNO-Arzt gehen und unser Gehör testen lassen. Beim Hörtest, sieht die testende Person dann auf einen Blick, ob du eine Schwerhörigkeit hat und ob diese „schlimm“ genug ist, um ein Hörgerät zu bekommen. Aber ist das wirklich so einfach?

Im Oktober 2022 fand in Hannover wieder der Akustiker-Kongress EUHA statt. Über diesen habe ich schon viel hier berichtet (siehe EUHA 2022 Teil 1: Neuigkeiten aus der Welt der Hörgeräte), aber es gibt noch so viel Interessantes dazu zu erzählen. Zum Kongress gab es ein interessantes Vortragsprogramm mit Fachvorträgen aus der Wissenschaft und Industrie der Hörsysteme. Ein Teil dieser, nämlich die des „Future Friday“ ist mittlerweile hier kostenlos und für alle „nachschaubar“. Besonders interessant fand ich hier den Vortrag von Brent Edwards (Ph. D): „Innovative Technologien zur Behandlung von Hörproblemen bei geringem Hörverlust“, dessen Zusammenfassung ich euch hier gerne geben möchte.

Der Vortrag befasst sich mit der Frage, wie man eigentlich feststellen sollte, ob jemand ein Hörgerät braucht. Bei uns in Deutschland funktioniert das so, dass wir einen Hörtest machen, bei dem ein Audiogramm herauskommt (siehe auch Hörtest Teil 1: Audiogramm und Hörschwellenmessung). Bei diesem Hörtest werden dir verschiedene Töne verschieden laut vorgespielt und du, dessen Gehör hier getestet wird, musst Zeichen geben, wenn du den Ton hörst. Das wird dann im Audiogramm als eine Linie eingetragen. Je höher und „waagerechter“ die Linie ist, desto besser hörst du. Jeder Punkt auf der Linie ist die minimale Lautstärke, ab der du den Ton gehört hast.

Ab wann ist man denn dann schwerhörig? Das ist nicht so einheitlich definiert, aber die meisten Quellen sagen, dass man als normal hörend gilt, wenn man die Töne bis zu 20 dB hört. Alles darüber ist dann „schwerhörig“, aber variierend von „geringgradig“ bis „an Taubheit grenzend“. Meistens wird dir ein Hörgerät erst angeboten, wenn deine Linie zwischen 40 und 60 dB landet. Darunter bist du zwar schwerhörig, aber in den Augen vieler HNO-Ärzte noch nicht genug für ein Hörgerät. Aber kann man das wirklich so pauschal sagen?

In dem Vortrag beschrieb Herr Edwards ein interessantes Forschungsprojekt. Im Rahmen dieses Projektes wurde das Gehör vieler Menschen getestet und sie wurden befragt, ob sie denken, dass sie ein Hörgerät brauchen. Daraufhin konnte die Menge dieser Menschen in vier Gruppen eingeteilt werden:

  1. Diejenigen, die laut dem Hörtest gut hören und denken kein Hörgerät zu brauchen.
  2. Diejenigen, die laut dem Hörtest schlecht hören und auch der Meinung sind, ein Hörgerät zu brauchen.
  3. Diejenigen, die laut dem Hörtest gut hören, aber trotzdem denken, Hörgeräte zu brauchen.
  4. Diejenigen, die laut dem Hörtest schlecht hören und nicht denken, dass sie ein Hörgerät brauchen.
Tabelle mit der Einteilung der Probanden in die vier Gruppen
Tabelle mit der Einteilung der Probanden in die vier Gruppen mit jeweils der geschätzten Größe auf die USA bezogen:

„Schlecht hören“ wurde in diesem Test übrigens mit „über 25 dB“ definiert. Gruppe 1 und 2 stimmt also mit dem überein, wie wir Schwerhörigkeit normalerweise feststellen und (wenn schlimm genug) dann auch mit Hörgeräten versorgen. Gruppe 4 ist vermutlich auch vielen ein Begriff, denn wir kennen fast alle jemanden in unserem Umfeld, von dem wir denken, dass die Person schwerhörig ist und vermutlich ein Hörgerät bräuchte, aber dass sie das selbst nicht so wahrnimmt, wahrhaben will oder einsieht. Übrigens ist Gruppe 4 einer der Gründe, warum ich diesen Blog gestartet habe – um mehr Menschen davon zu überzeugen, dass Hörgeräte für sie vielleicht eine gute Sache sind. Solltest du jemanden kennen, auf den die Beschreibung von Gruppe 4 passt, so erzähl ihm oder ihr einfach mal von meiner Website.

Gut hörend, aber es fühlt sich nicht so an?

Kommen wir aber zur dritten Gruppe, die nämlich besonders interessant ist. Das sind also Menschen, die beim Hörtest gut abschneiden, also „klinisch gesehen“ ein gutes Gehör haben. Trotzdem haben diese Menschen das Gefühl, dass sie schlecht hören und eventuell Hörgeräte brauchen. Wenn so jemand heute zum Akustiker oder HNO-Arzt geht, so würde ihm vermutlich gesagt, dass alles gut ist und er oder sie einfach wieder nach Hause gehen sollte, denn ein Hörgerät würde ihm oder ihr nicht helfen.

Das Forschungsprojekt hat an dieser Stelle aber die Frage gestellt: Ist das wirklich so? Würden diesen Menschen Hörgeräte wirklich nicht helfen? Und sie haben das dann wissenschaftlich getestet. Das funktioniert so. Sie haben diese Gruppe Menschen in zwei Gruppen eingeteilt und beiden Gruppen Hörgeräte gegeben und sie diese ein paar Wochen lang testen lassen. Die eine Gruppe war die Kontrollgruppe. Diese haben zwar auch Hörgeräte bekommen, aber die Hörgeräte waren so eingestellt, dass sie nichts verstärkt haben und auch sonst keine zusätzlichen Funktionen, wie z.B. das Unterdrücken von Hintergrundgeräuschen hatten.Das waren also so etwas wie „Placebo“-Hörgeräte, die quasi nichts getan haben. Die andere Gruppe hingegen hat Hörgeräte bekommen, die tatsächlich was tun mussten. Diese wurden so eingestellt, dass sie eine leichte Verstärkung machten und außerdem auch Zusatzfunktionen aktiviert waren.

Nach ein paar Wochen Tragezeit, wurden beide Gruppen gefragt, wie gut sie die Hörgeräte fanden und ob sie sie weiter tragen möchten. Und interessanterweise konnte man bei den beiden Gruppen sehr deutliche Unterschiede sehen. Die Gruppe, deren Hörgeräte wirklich etwas Sinnvolles taten, hat davon auch den Nutzen gesehen. Und das sogar so viel, dass die meisten von Ihnen die Hörgeräte weiter tragen wollten.

Was können wir daraus für Schlüsse ziehen?

  • Diese Ergebnisse stellen in Frage, ob die Entscheidung, ob jemand ein Hörgerät braucht oder nicht, hauptsächlich aufgrund des Autogramms getroffen werden sollte.
  • Vielmehr sollte man nicht nur die harten Fakten des Audiogramms, sondern auch das subjektive Empfinden der potentiell schwerhörigen Menschen mit einbeziehen. Es scheint doch wichtig zu sein, wie wir Menschen unsere Hörsituation wahrnehmen, egal was der Test sagt.
  • Wenn Menschen mit einem Hörverlust von unter 25 dB. schon von Hörgeräten profitieren könnten, wie geht es dann wohl Menschen, die zwischen 20 und 60 dB sind und auch oft noch keine Hörgeräte bekommen?
  • Ein Problem ist natürlich, dass das ganz neue wissenschaftliche Erkenntnisse sind. Im deutschen Gesundheitssystem würdest du noch kein Hörgerät von der Kasse bezahlt bekommen, wenn dein Hörverlust gar nicht messbar oder nur leicht ist. Wenn du es dir allerdings leisten kannst, deine Hörgeräte zur Not selbst zu bezahlen, dann steht dir trotzdem frei, einen Akustiker mit deinem Wunsch aufzusuchen. Die meisten Akustiker bieten es kostenlos an, Hörgeräte zu testen. Und sollte dein Akustiker oder deine Akustikerin zögern, weil du „zu gut“ hörst, so könntest du ihm von diesem Vortrag erzählen und vielleicht lässt er oder sie sich doch darauf ein.

Hearables als Alternative?

Neben Hörgeräten selbst gibt es für diese Zielgruppe von Menschen aber vielleicht noch eine andere Option. Das wurde auch in dem Forschungsprojekt untersucht. Die Rede ist hier von „Hearables“. Das sind Geräte, die anders als Hörgeräte keine medizinischen Geräte sind, sondern in den Bereich der Consumer-Elektronik fallen. Dieser Begriff umfasst alle Geräte, die etwas mit dem Hören machen, aber die man quasi nicht „auf Rezept“ bekommt, sondern sich einfach selbst im Elektronik-Fachmarkt kaufen kann. Die meisten dieser Geräte kann man sich als „etwas intelligentere“ Kopfhörer vorstellen. Hier gab es in den letzten Jahren einen wahren Boom, weshalb es diese Geräte nun in allen Formen gibt und in verschiedenen technischen Ausführungen. Diese Geräte machen Hörgeräten in dem Sinne Konkurrenz, dass sie mittlerweile Funktionalitäten mitbringen, die Hörgeräten sehr nahe kommen. Das kann zum Beispiel sein:

  • Sie nehmen die Geräuschkulisse der Umgebung auf und leiten sie ins Ohr weiter. Dabei kann man auch eine leichte Verstärkung anmachen, z.B. über eine App.
  • Sie bieten die Möglichkeit, unterschiedliche Tonbereiche unterschiedlich viel zu verstärken. Hier kann man dann z.B. wiederum mit einer App sagen, dass man die hohen Töne lauter haben möchte. Das könnte vor allem Menschen helfen, die bei den hohen Tönen und einem leichten Hörverlust empfinden.

Ihr seht also, dass das Funktionen sind, die Hörgeräte auch haben. Allerdings ist es so, dass Hörgeräte normalerweise noch einiges mehr können – zumindest je nach Leistungsklasse. Dennoch ist es eine gute Frage, ob denn Menschen in der dritten Gruppe nicht wenigstens mit Hearables weit kommen, wenn ihnen die Hörgeräteversorgung weiterhin verwehrt bleibt. Das Forschungsprojekt hat hier die gleiche Untersuchung wie mit den Hörgeräten gemacht. Auch hier gab es wieder zwei Gruppen, deren Ergebnisse verglichen wurden. Interessanterweise war hier das Ergebnis nicht so eindeutig wie bei Hörgeräten. Hearables scheinen hier nicht so vielen Leuten geholfen zu haben, wie Hörgeräte – selbst wenn letztere nur sehr leicht verstärkend angepasst wurden. Es scheint also, als wären Hörgeräte der Technik von Hearables noch um einiges voraus.

Ein interessanter Aspekt dieser Untersuchung war die Wahrnehmung von Stigma. Hörgeräte galten ja lange Zeit als Zeichen von “Alter” und “Behinderung”. Die Hörgeräte-Industrie legt sich seit jeher ins Zeug, die Geräte daher immer chicer und kleiner zu machen (meiner Meinung nach schießen sie da auch ein wenig über das Ziel hinaus, siehe Sichtbarkeit von Hörgeräten). Hearables dagegen sind oft relativ sichtbar und bewusst chic designt. So, dass sie potentiell als Accessoire oder Statussymbol getragen werden können. Es ist auch immer häufiger der Fall, daß wir auf offener Straße Menschen mit Hearables begegnen, die sehr sichtbar sind. Die Hörgeräte-Industrie freut sich über diesen Trend, denn das könnte auch helfen, das Stigma von Hörgeräten zu verringern. In der Studie gaben allerdings mehrere Leute an, dass sie die Hearables nicht so gerne tragen, weil sie so sichtbar sind. Da hat anscheinend auch das chice Design nichts geholfen. Bei Hörgeräten gab es weniger dieser Stimmen, was sich mit meiner Meinung deckt, dass sie langsam auch klein und unsichtbar genug geworden sind.

Fazit

Solltest du oder jemand in deiner Umgebung eine leichte Schwerhörigkeit empfinden, so macht es vielleicht Sinn, Hörgeräte auszuprobieren, selbst wenn der Hörtest nicht „schlimm“ ausgefallen ist. Und wenn Hörgeräte keine Option sind, dann sind in manchen Fällen Hearables eine Option.

9 Gedanken zu „Milder Hörverlust

  1. Meine Oma hört seit Monaten wirklich sehr schlecht, weshalb ich mir Sorgen mache. Wie schon im Beitrag genannt, sind die Folgen groß. Deswegen möchten ich günstige Oticon Hörgeräte kaufen, damit sie wenigstens ein bisschen besser hören kann. Was meinen Sie?

  2. Hallo! Ich kann zu konkreten Hoergeraeten wenig sagen, vor allem ohne die Hoerkurve zu kennen. Wenn die Oma aber schon sehr schlecht hoert, ist sie vermutlich schon ueber den „milden“ Hoerverlust hinaus. Das heisst aber nicht unbedingt, dass das fuer sie passende Hoergeraet dann auch gleich teuer sein muss. Wichtig ist, dass der Akustiker gut beraet und gut anpasst. Das funktioniert am besten, wenn man es als Benutzer gut testet. Bitte also der Oma nahelegen, dass sie da etwas Geduld mitbringen muss.

    Ich habe dazu einen anderen Artikel geschrieben, der ein paar Tips z um testen gibt: https://doofe-ohren.de/index.php/2022/01/01/wie-testet-man-hoergeraete-richtig/

    Ich wuensche viel Erfolg fuer die Oma!

  3. Eine Hörminderung trofft mehr Menschen als man denkt. Wenn man sich nicht sicher ist, ob man ein Hörgerät braucht, gibt es auch die Möglichkeit einen kostenlosen Hörtest in einem Fachgeschäft zu machen. Das würde ich immer als erstes empfehlen.

  4. Ich finde es interessant zu erfahren, dass Hörgerät normalerweise erst zwischen 40 und 60 dB angeboten werden. Meine Mutter benötigt in absehbarer Zeit ein Hörgerät. Es ist gut zu wissen, dass es neben Hörgerät auch Hearables gibt, die helfen können.

  5. Der Artikel verdeutlicht, dass ein milder Hörverlust häufig nicht sofort erkannt wird, aber dennoch Auswirkungen auf die Lebensqualität haben kann. Es ist wichtig, auf die eigenen Hörgewohnheiten zu achten und im Zweifelsfall professionellen Rat einzuholen, um eine frühzeitige Behandlung und Unterstützung zu erhalten. Ich bin froh, dass es Hörakustiker gibt, die sich mit dem Thema bestens auskennen.

  6. Wow, von Hearables habe ich noch nie gehört. Genau so, wenn jemand heute zum Akustiker oder HNO Spezialist geht, wird oft gesagt es ist doch nichts. Sehr interessanter Artikel, danke!

  7. Ich habe eben erst dieses Blog entdeckt und bin begeistert! Ich gehöre eindeutig zu Gruppe 3 in diesem Artikel und werde jetzt erst mal Hearables ausprobieren :-)). Auch die Artikel zum Thema Musik sprechen mir jetzt schon aus dem Herzen. Danke!

  8. Ein HNO-Arzt hat mir damals auch die Diagnose gestellt. Ich war jedoch bei zwei verschiedenen Ärzten, bevor der Hörverlust diagnostiziert wurde. Seitdem trage ich Hörgerät, die helfen mir sehr im Alltag.

  9. Ich hatte vor einem Jahr einen Hörsturz und nun auch auf einem Ohr einen leichten Hörverlust. Seitdem überlege ich, ob ein Hörgerät vielleicht Sinn macht. Ich finde es mal sehr interessant zu lesen, wo Schwerhörigkeit etwa anfängt und wann ein Gerät verordnet wird. Ich denke, es ist sinnvoll, dass ich mal einen genauen Test mache, um zu wissen, wo ich mich einordnen muss. Vielen Dank für die interessanten Fakten!

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