Kundendisziplinierung bei Ablauf der Testphase

Schon länger habe ich eine Reihe Artikel zum Thema „Die Tricks der Hörgeräte-Branche“ im Sinn. Für den Auftakt dieser gab es kürzlich Inspiration. Raul Krauthausen ist einer der Gründer des Vereines Sozialhelden und ein Aktivist für die Inklusion von Behinderten. Seit kurzem testet er Hörgeräte, die er aufgrund seiner fortschreitenden Schwerhörigkeit verordnet bekommen hat. Dabei ist nun folgendes passiert, welches er in diesem Tweet auf Twitter berichtete:

Tweet von Raul Krauthausen. Genauer Wortlaut ist unten im Text zitiert.
Tweet von Raul Krauthausen. Genauer Wortlaut ist unten im Text zitiert.

„Ok. Das jetzt bissl blöd: Ich teste immernoch Hörgeräte (Signia). Gestern lief der Testzeitraum ab. Am 1. Weihnachtsfeiertag. Seitdem spielen sie alle 30 Sekunden eine nervige Melodie, damit ich sie zurückgebe und nicht behalte. Der Laden hat aber erst morgen wieder auf. Düdümm.“

Was war passiert? Schauen wir uns die Situation mal genauer an.

Was war passiert?

Raul hat ein Paar Hörgeräte zum testen ausgeliehen. Diese hat er nicht rechtzeitig vor Ablauf der Testphase zurückgegeben. Nach Ablauf von 30 Tagen, gingen sie in einen Modus über, der alle 30 Sekunden eine Melodie abspielte. Das soll Kunden dazu animieren, die Test-Geräte spätestens dann zum Akustiker zurück zu bringen – und idealerweise dann die entsprechenden Geräte vollumfänglich zu erwerben. Nun war es allerdings so, dass diese 30 Tage über die Weihnachtsfeiertage abliefen, an denen kein Akustiker-Fachgeschäft geöffnet ist. Nach Rauls Nachricht auf Twitter entstand dann eine Diskussion unter den Followern, die vor allem Kritik an dieser Praxis der Kundendisziplinierung übte.

Natürlich ist es erstmal nicht okay, wenn man etwas geliehenes nicht in der vereinbarten Frist zurückbringt. Da sind wir uns glaube ich alle einig. Aber vermutlich ist die Geschichte hier nuancierter als man auf den ersten Blick sieht. Lasst uns das ganze mal aus der Sicht der schwerhörigen Kunden, aber auch der Hörgeräte-Branche beleuchten.

Das Testen von Hörgeräten

Bevor du Hörgeräte kaufst, darfst du sie testen. Dafür bekommst du sie grob an deinen Hörverlust angepasst und darfst sie dann jeweils ungefähr eine Woche testen. Das darfst du mit mehreren Modellen hintereinander machen. Wenn du dich dann für ein Modell entschieden hast, bekommst du das nochmal genauer angepasst, darfst es nochmal testen, gegebenenfalls mit verschiedenen Parametern bis du zufrieden bist und die Geräte kaufen möchtest.

Ich persönlich finde es knapp bemessen, dass man Hörgeräte nur eine Woche testen darf. Unser Gehirn braucht eine Weile bis es sich an den Klang gewöhnt hat. Man spricht von 6-8 Wochen bis das vollständig geschehen ist. Eine Woche ist also im Vergleich schon sehr wenig. Ich empfehle daher grundsätzlich eine Testzeit von mindestens zwei Wochen herauszuhandeln. Darauf gehe ich auch in einem früheren Artikel Wie testet man Hörgeräte richtig? ein.

Leider ist Akustikern hier nicht immer freie Hand gegeben. Als angestellter Akustiker muss man den Vorgaben des Fachgeschäftes folgen und die erlauben nicht immer viel Spielraum. Da Akustiker nur wirklich durch den Verkauf der Geräte Geld verdienen, haben sie ein wirtschaftliches Interesse daran, dass die Testphase von Hörgeräten möglichst kurz ist. Jeder zusätzliche Termin im Fachgeschäft und jedes zusätzliche Testgerät im Umlauf kostet hier Geld. Daher befinden sich Akustiker in gewisser Weise in einer Zwickmühle zwischen dem Druck Profit zu machen und die schwerhörigen Kunden möglichst gut zu versorgen.

Sind 30 Tage großzügig?

Nun könnte man zu recht sagen, dass zwei Wochen ja noch weit entfernt sind von den 30 Tagen, die in diesem Fall ins Spiel kommen. Das ist natürlich korrekt, aber ich würde hier doch zu Bedenken geben, dass das Leben uns doch oft einen Strich durch die Rechnung macht. Angeblich soll die Praxis Hörgeräte in kurzen Abständen einen Ton abspielen zu lassen, Leute motivieren ihre Rückgabetermine einzuhalten. Was ist aber, wenn ich einen guten Grund habe, den schon vereinbarten Termin abzusagen?

Es ist dieser Tage ja nicht ungewöhnlich mal 1-2 Wochen mit einer Grippe oder Corona darnieder zu liegen. Ich denke doch auch, dass unsere lieben Akustiker sich ungern mit den aktuell grassierenden Seuchen anstecken möchten. Ich frage mich an dieser Stelle, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, wenn der Akustiker oder die Akustikerin nach der Absage des Termins die Testzeit dann „aus der Ferne“ verlängern hätte können. Ob das nun technisch möglich ist, oder in diesem Fall einfach vergessen wurde, wissen wir nicht.

Sollten Kunden über diese Sperre informiert werden?

Ein Aspekt, der an dieser Geschichte doch drückt, ist die Tatsache, dass diese Sperre anscheinend aktiviert wurde ohne den Kunden im Vorhinein darauf hinzuweisen. Ein solcher Mechanismus wird von Akustikern und Akustikerinnen verteidigt, weil es angeblich oft genug vorkommt, dass die Leute die Test-Geräte nicht oder verspätet zurückbringen.

Er soll also motivierten, die vereinbarten Termine und Fristen einzuhalten. Da frage ich mich allerdings, wie etwas motivierten soll, wenn man davon noch nichts weiß? Wenn ich als Kunde vor der Frage stehe ob ich den Termin einhalten möchte oder nicht, so würde ich ihn vermutlich eher einhalten, wenn ich denn um die Konsequenzen wüsste. Tempolimits auf unseren Straßen würden vermutlich ja auch wenig bringen, wenn wir nicht alle wüssten, dass uns Raserei viel Geld, Punkte in Flensburg und den Führerschein kosten würde.

Und angenommen es gibt wie oben wirklich gute Gründe, den Termin abzusagen, dann würde dieses Wissen wenigstens dazu führen, dass man als Kunde vorsorgen kann, in dem man z.B. den Partner mit den Hörgeräten vor Weihnachten ins Fachgeschäft schicken kann um diese entweder zurück zu geben, oder die Sperrfrist verlängern zu lassen. Aber wenn ich es nicht weiß, dann sind mir als Kunde alle Möglichkeiten genommen, die Sache vorsorglich zu klären.

Hätte es Alternativen gegeben?

Wenn du Hörgeräte zum testen ausleihst, dann musst du deren Erhalt quittieren. Ich war selbst noch nie in der Situation, dass eine solche Sperre gegriffen hat, aber ich ging immer davon aus, dass ich schlimmstenfalls nach Ablauf der Testzeit eine Rechnung für die Geräte zugestellt bekomme. Wenn ich diese nicht bezahlen würde, so würde die Zahlungsaufforderung dann entsprechend vollstreckt mit Mahnungen etc.

Ich finde es interessant, daß hier ein anderer Weg gewählt wurde. Ich vermute, es ist relativ effektiv, die Kunden mit dieser Sperre wieder ins Fachgeschäft zu locken, anscheinend effektiver und weniger Aufwand als Rechnungen zu schicken und zu vollstrecken.

An dieser Stelle frage ich mich allerdings, die hier gewählte Sperre denn nicht mit anderen Nachteilen kommt. Denn diese Maßnahme zeigt uns Kunden ja ganz klar, dass man uns doch nicht vertraut, dass wir (s.o.) vielleicht gute Gründe für die Verzögerung haben. Ich frage mich hier auch, ob ein solches Erlebnis nicht mehr Kundenbindung zerstört als es bringt. Ich würde nach so einem Erlebnis jedenfalls entweder den Akustiker oder den Hersteller wechseln – vielleicht sogar beides.

Autokauf zum Vergleich

Spricht man mit Akustikern zu diesem Thema, so wird oft das Argument gebracht, dass man Autos ja auch nicht so lange testen darf. Es ist korrekt, dass man vor einem Autokauf normalerweise höchstens ein paar Stunden Probe fahren darf. Ich finde aber, der Vergleich hinkt etwas:

Im Vergleich zum Hören braucht unser Gehirn nicht so lange sich an ein neues Auto zu gewöhnen. Daher ist es schon allein aufgrund der physiologischen Gegebenheiten des Menschen nötig, Hörgeräte länger als ein paar Stunden zu testen.

Ein Auto zu besitzen ist immer noch optional. Kein Mensch ist gezwungen, ein Auto zu kaufen. Das heißt, wenn uns die Bedingungen des Autohändlers nicht passen, so können wir entweder zu einem anderen gehen oder uns vielleicht doch ein Ticket für den Bus kaufen. Bei Hörgeräten ist die Situation etwas anders. Auch hier kann ich natürlich zu einem anderen Akustiker gehen, wenn mir die Konditionen des einen nicht passen. Aber auch das wird nicht gerne gesehen in der Branche, denn wie oben beschrieben, kostet jeder Kundentermin Geld. Der weitaus wichtigere Punkt ist aber, dass wir zum Hören keine Alternative haben (von Gebärdensprache abgesehen, was aber in einer vorwiegend lautsprachlichen Gesellschaft leider auch nicht ausreichend gefördert wird).

Bei einem gewissen Grad an Schwerhörigkeit habe ich nur die Möglichkeit Hörgeräte zu kaufen oder sozial zu verkümmern. Es gibt keinen öffentlichen Hörgeräte-Service, der mich für kleines Geld an der nächsten Haltestelle einsteigen lässt. Es gibt auch keinen „Gebrauchtwagenmarkt“ bei Hörgeräten, denn offiziell dürfen gebrauchte Hörgeräte nicht weiterverkauft werden, weil es sich um medizinische Geräte handelt. Alles in allem hat die Hörsystembranche also eine viel größere Macht über ihre Kunden als es die Autobranche hat. Und da hat es doch einen sehr bitteren Beigeschmack, wenn diese Macht dann durch eine solche Art der Kundendisziplinierung sehr schmerzhaft demonstriert wird.

Neuwagen wie Hörgeräte haben noch etwas gemein. Wenn man einen Neuwagen kaufen möchte, so darf man zwar vorher das gleiche Modell Probefahren, aber muss dann kostenpflichtig den Wagen, den man dann wirklich bekommt, bestellen. Bei Hörgeräten ist es je nach Hersteller mittlerweile auch so. Zum Testen werde nicht mehr die Geräte ausgegeben, die du als Kunde am Ende wirklich kaufst, sondern sogenannte „Demo-Geräte“, die vor Kauf also gegen die „richtigen“ Geräte ausgetauscht werden. Zurecht sagen hier Akustiker, dass dieser Schritt eben noch passieren muss, wenn die Testphase abgelaufen ist, und das ist auch nicht damit zu lösen, dass man dem Kunden die Geräte einfach in Rechnung stellt.

Da stimme ich grundsätzlich zu, dass der Weg über die Rechnung dann nicht funktioniert, aber das war ja eine bewusste Entscheidung der Hersteller auf das Testen mit Demo-Geräten zu bestehen. Die Einführung von Demo-Geräten war ja eine freiwillige Entscheidung der Hersteller, daher kann das wohl kaum ein Argument dafür sein, dass man dann an anderer Stelle zu solchen Maßnahmen gezwungen ist.

Die Verkehrssicherheit

Was mich am meisten an dieser Praxis irritiert, ist dass sie völlig außer Acht lässt, dass das unerwartete „Sperren“ von Hörgeräten ja durchaus gefährlich sein kann. In der Diskussion die sich um Raul’s Tweet entwickelte, erwähnte jemand den Vergleich zu einem Rollstuhl. Wenn ich einen Rollstuhl teste und der Hersteller eine ähnlich wirksame Sperre einbauen möchte, wie sähe die aus? Dass der Rollstuhl alle 30 Sekunden mal bremst oder Vollgas gibt? Wären wir uns da nicht alle einig, dass das verdammt gefährlich sein kann, wenn ich gerade dabei bin eine mehrspurige Straße zu überqueren oder durch eine Menschenmenge zu navigieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass keine Rollstühle mit dieser Funktion vertrieben werden dürften.

Nun kann man ja sagen, das Hören da etwas anderes ist als sich fort zu bewegen. An dieser Stelle eine kleine Geschichte: als ich meine aktuellen Hörgeräte testete, so testete ich auch die Funktion von meinem Mobiltelefon aus Gespräche zu führen oder Hörbücher zu hören. In dem Fall schaltet mein Hörgerät in den Streaming-Modus, aber die Mikrophone der Hörgeräte werden nicht ausgeschaltet, sondern nur minimal heruntergeregelt. Das heißt ich kann beim Telefonieren immer noch meine Umgebung hören. Das fand ich aber eher blöd, denn wenn die Umgebung zu laut ist, z.B. auf der Straße, dann verstehe ich meinen Gesprächspartner oder den Sprecher des Audiobooks nicht wenn ein Auto an mir vorbeifährt. Zwar konnte ich die Mikrophone durch zusätzliches Drücken auf einen Knopf abschalten, aber muss das jedes Mal wieder machen, denn mein Hörgerät merkt sich nicht, dass ich die Mikrophone lieber ausgeschaltet haben möchte. Als ich meinen Akustiker darauf ansprach, meinte er, dass man das nicht abschalten kann, weil der Hersteller der Hörgeräte das aus Sicherheit anlassen würde, damit man nicht Gefahr läuft im Straßenverkehr überfahren zu werden. Auch wenn ich mich an dieser Stelle ein klein wenig bevormundet gefühlt habe, denn schließlich hält ja Hörende auch niemand davon ab mit Kopfhörern über die Straße zu laufen, aber immerhin dachte ich, dass sich der Hersteller etwas dabei gedacht hat und mein Überleben in freier Wildbahn priorisiert hat. Aber dieses Beispiel zeigt, dass Hören wohl etwas mit fortbewegen (und dessen Gefahren) zu tun hat und es manche Hersteller (in diesem Fall Phonak) durchaus für wichtig erachten.

Wenn ich mir nun die Praxis der „Sperre mit Melodie“ anschaue, dann frage ich mich, ob die Firma Signia hier andere Prioritäten setzt. Denn schließlich höre ich in dem Moment wo die Melodie spielt meine Umgebung auch weniger. Was ist, wenn ich dann von einem Auto überfahren werde? Dazu kommt noch, dass diese Sperre ja sehr plötzlich anfangen kann und ich als Kunde vorher nichts davon wusste, also ein Überraschungseffekt dazu kommt, der meine Aufmerksamkeit im Straßenverkehr noch mehr beeinträchtigen kann. Sind es ein paar Testgeräte wirklich wert, die Sicherheit von Menschen zu gefährden?

Weitere Aspekte der Abhängigkeit

In vieler Hinsicht dieser Geschichte spielt die Abhängigkeit der schwerhörigen Kunden gegenüber der Hörgeräteindustrie eine Rolle. Neben den bereits genannten fallen mir da noch folgende ein:

  • Die Hörgeräteversorgung in Deutschland (hier bezogen sowohl auf Akustiker und Hörsystemhersteller, aber auch auf unser Gesundheitssystem) hat einige Lücken, die oft nur einigermaßen kompensiert werden können, dass die Schwerhörigen oft von ein altes Paar Hörgeräte daheim haben, welches sie im Notfall nutzen können, z.B. wenn das aktuelle Gerät den Geist aufgibt. Das ist allerdings nur bedingt eine Lösung, denn schließlich gibt es auch viele Schwerhörige, die, wie Raul, zum ersten mal Hörgeräte bekommen. Auch könnten die alten Hörgeräte einfach nicht mehr funktionieren und sowieso sind sie dann meist über 6 Jahre alt und nicht gewartet.
  • Wie diese Geschichte sehr schön illustriert, ist man als Kunde sehr von den Öffnungszeiten der Akustiker abhängig. Die Tatsache, dass die Testphase dummerweise über die Feiertage endete, war anscheinend etwas was der Akustiker entweder übersehen oder in Kauf genommen hat. Aber selbst wenn keine Feiertage sind, so ist man als Kunde schon sehr angeschmiert, wenn einem die Geräte Freitags abends kaputt gehen. Die wenigsten Fachgeschäfte haben nämlich Samstags auf und selbst wenn man ihn extra bezahlen würde, so gibt es keinen 24-Stunden-Service wie den ADAC für Hörgeräte. Das ist einer der Gründe, warum die Öffnungszeiten bei mir bei der Auswahl von Hörgeräten immer eine Rolle spielen, mehr Tipps hierzu in Wie findet man einen guten Akustiker? Teil 1: Erreichbarkeit (An dieser Stelle werfen Leute schonmal ein, dass ein Wochenende nichts hören ja nicht so schlimm sein kann, denn es wäre ja nicht lebenswichtig. Es mag sein, dass man nicht daran stirbt ein Wochenende nichts zu hören, aber ich glaube wer so etwas sagt, hat nie bedacht, dass es ja ein wichtiges Wochenende sein kann. Ich hatte vor meiner Hochzeit einen Albtraum wo am Freitag, Vorabend der Trauung, meine Hörgeräte kaputt gehen. Dann hat natürlich kein Akustikfachgeschäft auf. In der Folge habe ich im Traum bei der Trauung den Moment verpasst „Ja“ zu sagen. Und auf der monatelang vorher geplanten Party seine eigenen Gäste nicht zu verstehen, war in meinem Traum auch ein ziemlicher Knacks im schönsten Tag des Lebens.)
  • Als Schwerhörige können wir Hörgeräte nur bei Akustikern erwerben. Und nicht nur die Geräte, sondern auch fast alle Informationen dazu, bekommen wir fast nur im Akustik-Geschäft. Unser HNO-Arzt kümmert sich nur um das medizinische und Stellen für neutrale Beratung für Schwerhörige gibt es so gut wie keine (siehe Neutrale Hörgeräteberatung). Das heißt wir sind auch sehr darauf angewiesen, dass unser Akustiker uns alle nötigen Informationen gibt, die wir zum Testen von Hörgeräten brauchen. Also auch, was passiert, wenn die Testphase abgelaufen ist. Wer hätte uns sonst darauf hinweisen können?
  • Zu guter letzte möchte ich hier die finanzielle Abhängigkeit vom Gesundheitssystem erwähnen. Die Beträge, die Krankenkassen bei Hörgeräten zuzahlen sind ein Witz (siehe am Beispiel erklärt in Verstehen in Gesellschaft). Das heißt, dass wir Schwerhörige oft mehrere Hundert, wenn ich Tausende von Euros selbst bezahlen müssen um Hörgeräte zu bekommen, die uns in einer hochtechnisierten und mit Lärm verseuchten Welt ein soziales Leben ermöglichen. Da könnten manche Leute vielleicht aus Verzweiflung darauf kommen, Hörgeräte zu klauen. Ich möchte ein solches Verhalten nicht entschuldigen, aber wundern tut es mich nicht, dass so etwas passiert.

Differenzierung zwischen den Akteuren

An dieser Stelle der Hinweis, dass es in diesem ganzen Spiel ja mehrere Spieler gibt. Wir wissen nicht, ob eine solche Sperre vom Hersteller vorgegeben ist, von der Geschäftsleitung der Akustiker-Kette bestimmt worden ist, oder ob der oder die Akustiker frei entscheiden konnte, ob er oder sie sie aktiviert oder nicht. Und in letzterem Fall kann es natürlich auch sein, daß es ein Versehen war sie nicht entsprechend zu verlängern, wenn es gute Gründe dafür gab. Ohne mehr Informationen über diesen konkreten Fall zu haben, möchten wir hier nicht weiter spekulieren, wer an dieser Stelle kundenfreundlicher hätte handeln können.

Fazit

Ihr seht, es gibt an dieser Stelle viele Sachen zu bedenken und ich hoffe dieser Artikel hat etwas Hintergrundwissen dazubeitragen können.

Irritierend ist, dass die Hörgerätebranche eigentlich immer jammert, dass viele Menschen schwerhörig genug sind um Hörgeräte zu brauchen. Diese Hörgeräte werden aber oft von ihnen nicht getragen, sondern verstauben in der Schublade. Wenn man nun aber so eine akustische Sperre aktiviert, so bestraft man ja gerade die Kunden, die die Geräte ja wirklich tragen. Denn wenn sie in der Schublade lägen, würden die Kunden ja gar nicht darunter leiden, dass die Testzeit abgelaufen ist. Hier werden also die Kunden bestraft, die schon auf gutem Weg waren sich mit den Geräten anzufreunden.

Ich würde mir wünschen, wenn solche Praktiken der Hörakustikbranche nicht nötig wären. Wenn bei der Versorgung mit Hörsystemen der Mensch gesehen würde, so würde man mit ihm oder ihr reden anstatt ihn oder sie durch technische Hilfsmittel ins Geschäft zu zwingen. Technische Mittel sind selten eine gute Lösung für soziale Probleme.

3 Gedanken zu „Kundendisziplinierung bei Ablauf der Testphase

  1. Sehr gut zusammengefasst, aus Kundensicht. Und richtig, über diesen konkreten Fall ist zu wenig bekannt. Ich denke nicht das ich dafür den Kontakt zu Raul suchen möchte, dennoch möchte ich mich hier als (Ex)Akustiker positionieren.

    Lange Zeit war es gängig im Lager alle HG der Kernhersteller in verschiedenen Leistungsklassen und Stärken vorrätig zu haben. Zwar hat die digitalisierung der Geräte die Leistungsbreite einzelner Geräte stark erweitert, aber die Einführung von programmierbaren Demogeräten hat die Lagerhaltung nochmal um den Faktor 5-7 reduziert.
    Die Firma Signia/Sivantos/ehem. Siemens (nicht alleine) hat sich dazu entschlossen keine ‚echten‘ HG mehr an den Akustiker zu senden, sondern nur noch die Demo-Variante. Das hat sicher logistische und rechtliche Vorteile (Komission vs. Konsignation, Rücksendungen, …). Die Akustiker standen dieser Veränderung kritisch gegenüber, wie immer.
    Weil ich nicht einfach sagen kann ‚HG gut? Hier Rechnung, auf wiedersehen in 6 Jahren‘. Ich muss beim letzten Termin immer den Tausch mit einplanen. Hörer tauschen, ggf vorladen, hoffen das die Programmierung übernommen wurde …

    Also der Demo Zeitraum ist nicht optional. Ich kann in Grenzen die Dauer festlegen, und diese wird in Stunden angegeben. Wenn ich Raul also ein Gerät anpasse, sage er kommt in Montag 5 Tagen wieder, trägt die Geräte 10h am Tag, das heisst ich stelle 50h ein … Jetzt vergisst er die Geräte am abend auszuschalten, die laufen also 8h ‚ungeplant‘ -> nur noch 42. Man könnte sagen es fehlt ein kompletter Probetag.
    In der Praxis ist es natürlich nicht immer so überspitzt, aber 2 Dinge kamen bei mir häufiger vor:
    1. Der Kund ehat die Geräte in die Ladestation gelegt, aber vergessen das Kabel in die Steckdose zu stecken. Mehrfach. am nächsten Tag zwar morgens 3h geladen und das reichte um über den Tag zu kommen, die Laufzeit war trotzdem futssch.
    2. Der akustiker (ich) habe beim Kontrolltermin vergessen den Zeitraum zu erweitern. Ja, ich bin nicht unfehlbar, und im Gespräch mit dem Kunden vergisst man mal Details.
    Zu meiner Verteidigung ist die von Helga erwähne Woche seltenst Praxis. Ich möchte den Kunden, gerade bei erstversorgung, mindestens nach einer Woche sehen. Im besten Fall ist alles OK, aber wenn es etwas zu verändern gibt, dann bitte schnell und nicht 2 Wochen mit doofer Einstellung testen lassen. Zwischen 6-8 Wochen darf eine Versorgung schon dauern. Dabei ist we wenig hilfreich alle 5-7 Tage die Geräte zu tauschen, wegen der zuvor erwähnten Hörgewöhnung. Dennoch ist es sinnvoll in den ersten 2-3 Wochen 2-3 Geräte zu vergleichen und mit dem Favoriten in die Feinanpassung zu gehen.

    Bei aller Theorie und Praxis, ist jeder Kunde einzigartig. Ich rate niemanden nach 4 Wochen ein Gerät zu kaufen, wenn der Kunde es aber möchte, hindere ich ihn nicht daran. Andersrum sage ich nach 8 Wochen auch gerne, dass wir (in der Regel) nicht mehr tun können. Der Wunsch des Ferrari von der Krankenkasse ist nicht erfüllbar.

    Ich selbst ärgere mich, wenn ein Leihwagen unterwegs eine Warnleuchte anzeigt. Oder wenn der geliehene Betonmischer beim Giessen eines 5m Pool kaputt geht. Aber in der Regel sagt man dem Verleiher ‚das war nun aber doof, wie einigen wir uns?‘ und die Welt geht nicht unter. Und obwohl mir das alles bereits passiert ist, schreibe ich nicht der Welt auf Twitter davon.
    Raul bekommt eine ‚Hörhilfe‘, kein neues Ohr. Und er muss bis zum nächsten Werktag mit offenem Kopf und der Gefahr einer Infektion auskommen.

    Signia baut solide Geräte zu einem guten Preis.

  2. Hallo Herr Möller,

    wahrscheinlich war das vom Akustiker keine Absicht, sondern ist einfach nur doof gelaufen.
    Ich bin Vater von zwei Töchter 11 und 13 Jahren. Wir konnte das erste Mal nach Corona, wieder mit der gesamten Familie (22 Personen), Weihnachten feiern. Wenn da meine Hörgeräte nicht funktioniert hätten…
    Weihnachten ist halt ein gsnz besonderer Moment.

  3. Hallo,

    leider ist dieser, wie auch viele andere Artikel, mit einigen Halbwahrheiten und Mutmaßungen bestückt. Mir ist auch schon in früheren Artikeln aufgefallen, dass vieles faktisch nicht stimmt und, so scheint es jedenfalls, subjektiver Natur ist. Auch in diesem konkreten Fall kann ich mich nur Benjamin anschließen. Aber die Demo-Geräte haben einen Sinn und der ist deutlich nachhaltiger und kundenfreundlicher als das vorher der Fall war. Den Testzeitraum hat auch nicht das Fachgeschäft definiert, sondern wird vom Hersteller vorgegeben. Mehr als 6 Wochen sind hier einfach nicht wählbar, können aber bei einem erneuten Besuch verlängert werden. Innerhalb dieser Frist wird in einer Anpassung immer ein Termin bestehen. Andernfalls ist schon etwas gravierendes dazwischen gekommen oder der Kunde ist stiften gegangen. Natürlich kann auch der Betrieb die Verlängerung vergessen haben. Der Autovergleich macht ebenfalls keinen Sinn. Das wird gern herangezogen, ist aber ein völlig anderes Produkt und hat auch einen ganz anderen Stellenwert. Kein Auto zu haben behindert mich nicht. Hier gibt es Alternativen genug. Ist das Ding Samstags Abends fritte, kann ich auch Sonntag nicht zu einer Werkstatt. Ja, na und? Solang ich noch höre und sehe, ist das wohl ein kleineres Übel. Der Brillenvergleich wäre sinniger, die darf man schließlich auch nicht ausprobieren (außer Kontaktlinsen) und kauft quasi die Katze im Sack und das auch auf Bestellung. Die HGA-Branche ist da schon sehr großzügig. Welches andere Produkt kann man so lange freudig testen, ohne das man am Ende überhaupt etwas kaufen muss? Das ist Betriebsrisiko und Kulanz, was aber natürlich in den Preisen einkalkuliert ist. Ich finde deine Arbeit zwar grundlegend gut, aber hier fehlt mir leider oft fundiertes Wissen. Ich möchte jetzt nicht jeden Artikel kommentieren, aber du solltest manches dann doch noch mal genauer nachschlagen. Ich finde Aufklärung wichtig, aber sie sollte auch inhaltlich stimmen.

    Nichts für ungut.

    Peter

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