Vor kurzem hat der WDR mich zum Thema Onlinehandel von Hörgeräten interviewed. Den Beitrag könnt ihr euch hier in der Mediathek anschauen. Er startet bei Minute 12:38.

Ein Fernsehbeitrag wie dieser hat seine Grenzen, vor allem zeitlich. Daher möchte ich hier nochmal auf das Thema eingehen und ausführlicher meine Meinung darlegen als ich in diesem Beitrag Gelegenheit hatte.
Ich beobachte die Hörgerätebranche schon lange und natürlich haben mich auch die Entwicklungen des Onlinehandels interessiert. In der Vergangenheit habe ich bereits mehrfach darüber geschrieben, z.B. Hörakustik im Neuland: Dein Echo (gesponsorter Artikel) und Die Hörgeräte-Vertriebsmaschine Audibene.
Warum ich die Entwicklung des Onlinehandels in manchen Aspekten begrüße
Auch wenn ich den aufkommenden Onlinehandel von Hörgeräten insgesamt eher kritisch sehe, gibt es dennoch Aspekte dieser Entwicklung, die ich sehr begrüsse.
Erreichen der Unversorgten. Wie im Beitrag angedeutet, ist für mich der wichtigste Vorteil des Onlinehandels dass er Menschen mit Schwerhörigkeit erreicht, die aufgrund von Stigma sich sonst gar nicht versorgen lassen würden. Das ist leider immer noch eine große Gruppe. Es ist trotz aller Bemühungen des Gesundheitssystems, der Selbsthilfeverbände und der Hörgerätebranche ein bisher noch ungelöstes Problem. Wenn der Onlinehandel dazu führt, dass sich diese Menschen doch an das Thema herantrauen, dann ist etwas gewonnen.
Digitalisierung nutzen. Der klassische Hörakustik-Markt kommt mir oft sehr verschlafen vor, was die Bedürfnisse von jüngeren und vor allem berufstätigen Kunden angeht. Ich rede von der Gruppe Kunden, die technisch durchaus mit ihrer Alltagselektronik wie Mobiltelefon und Laptop umgehen kann, und von berufstätigen Kunden, die ihre Schwerhörigkeit neben einem Vollzeitjob managen müssen. Wir werden vom Onlinehandel angesprochen, denn hier sind wir nicht von arbeitnehmerunfreundlichen Ladenöffnungszeiten abhängig (siehe Wie findet man einen guten Akustiker? Teil 1: Erreichbarkeit) und können uns so manchen Weg in die Filiale sparen, wenn wir selbst mehr machen können (siehe Die eine Checkbox). In diesen Aspekten könnten auch stationäre Akustiker attraktiver werden. Die Technologie für Fernanpassung gibt es schon länger (siehe Akustikertermin aus der Ferne), sie müsste nur mehr beworben und angeboten werden. Und wenn man dann noch etwas flexibel bei den Öffnungszeiten oder zumindest der Erreichbarkeit per Email ist, dann hat man schon viele Kunden wieder gewonnen. Wenn der Onlinehandel hier etwas Ansporn gibt, dass auch klassische Akustiker neue Wege gehen, freut mich das.
Mit dem Kauf ist es nicht vorbei. Viele traditionelle Akustiker jammern, dass sie mit den Preisen des Online-Handels nicht mithalten können, denn sie müssen ja die Filialen unterhalten. Das verstehe ich, aber der Punkt ist, dass wir Kunden in dieser Filiale das Gefühl bekommen möchten, dass wir dort auch nach dem Kauf noch für die Nachsorge willkommen sind. Ich hatte schon viele Akustiker, die mich nach dem Bezahlen der Rechnung am liebsten die nächsten sechs Jahre nicht wieder sehen wollten. Wenn wir Kunden das Gefühl haben, dass ihr, liebe Damen und Herren Akustiker, vor allem wirtschaftliche Ziele mit Gewinnmaximierung verfolgt und mehr den Verkauf als die Versorgung eines Menschen im Herzen habt, dann wundert euch nicht, dass wir auch beginnen wirtschaftlich denken.
Warum ich Onlinehandel von Hörgeräten dennoch kritisch sehe
Grundsätzlich bin ich nicht davon überzeugt, dass Onlinehandel die beste Art ist, eine Schwerhörigkeit zu versorgen – aus folgenden Gründen.
Versorgung ist mehr als Hörgerätekauf: Zur Versorgung einer Schwerhörigkeit gehört viel mehr als nur der Kauf eines Gerätes. Da ist zum einen die Einstellung der Hörgeräteparameter an den individuellen Hörverlust. Eine Schwerhörigkeit definiert sich nicht nur nach dem Hörtestergebnis. Anpassungen sind oft nicht nur ein paar Klicks in einer Software, sondern erfordern oft viele Anpassungssitzungen und Geschick und Einfühlungsvermögen des Akustikers und der uns Kunden dabei begleitet, das Hören wieder neu zu lernen. Zwar kann man auch bei Onlinehandlern wiederholt Nachanpassungen machen lassen, aber der Fernsehbeitrag zeigt ja, dass das so seine Grenzen hat. Auch kann kein Akustiker vom Onlinehandler wirklich nachprüfen, ob das Hörgerät den gut sitzt und ob es (bei In-Ohr-Geräten) überhaupt im richtigen Ohr sitzt.
Nachsorge. Nach dem Kauf gibt es noch einige Servicedienstleistungen, die zu einer Hörgeräteversorgung gehören. Die physische Warung wie Reinigung, Filterwechsel und Hörgerwechsel schiebt der Onlinehändler einfach dem Kunden zu. Bei Reparaturen muss man die Hörgeräte einschicken und hat damit eine Wartezeit in der man ohne auskommen muss. Weitere Aspekte der Nachsorge werden versucht durch Videos und Anleitungen auf der Webseite des Onlinehandlers zu ersetzen. Aber reicht das? Nachsorge ist ein breites Feld, siehe auch Hörgerät – und nun? Bei einem komplexen und zutiefst menschlichen Problem, wie einer Schwerhörigkeit, ist menschlicher Kontakt ein großer Schritt zu einer guten Versorgung (siehe auch: Wie findet man einen guten Akustiker? Teil 2: Das Zwischenmenschliche).
Handwerk: Die Hörakustik ist ein Handwerk und das zu Recht. Besonders wichtig ist das, wenn man angepasste Ohrstücke, also Otoplastiken, haben möchte (siehe Ohrstücke: Otoplastiken oder Schirmchen?). Diese haben sehr gute akustische Eigenschaften. Sie sitzen besser als Einheitsgrößen-Schirmchen und mit ihnen lassen sich komplizierte Hörverluste versorgen und Probleme mit Rückkopplungen (Warum fiept mein Hörgerät?) besser lösen. Das bietet der Onlinehandel aber nicht und suggeriert stattdessen, das man die gar nicht braucht und so unbedarfte Kunden nichtmal bewusst wahrnehmen, dass sie hier Kompromisse machen.
Versorgung aller. Onlinehandel funktioniert so, dass sich der Anbieter eine kleine Zielgruppe aussucht, auf diese sein Angebot optimiert und nur diese bedient. Das sind in dem Fall Kunden, die technisch fit genug sind mit ihrem Handy umzugehen und deren Hörverlust einfach genug zu versorgen ist, dass sie ohne Otoplastiken und langwierige Anpassungen auskommen. Alle anderen werden bewusst nicht von diesen Anbietern angesprochen und werden es vermutlich auch niemals werden. Das sind aber nunmal die Kunden, die den Akustikern mehr Arbeit machen und eine Filiale erfordern, also prinzipiell mehr Kosten versursachen.
Da Akustiker aber mit einer Mischkalkulation rechnen, wo die “einfachen” Versorgungen die “komplizierteren” Versorgungen mitfinanzieren, funktioniert das nicht mehr wenn alle “einfachen” Versorgungen zum Onlinehandel übergehen. Das wird dann ähnlich werden wie bei Banken, wo die jungen Leute zu billigen Onlinebanken abwandern und die Filialbanken wegen zu hohen Kosten schließen müssen und der Opa im Dorf keinen Zugang mehr zu einer Bank hat.
In der Akustik wird das dann auch bedeuten, dass es weniger Filialen geben wird und dass Menschen, die auf diese angewiesen sind weiter fahren müssen (wenn sie das denn überhaupt können) und damit schlechter versorgt werden. Wenn du also zur Zielgruppe der Onlinehändler gehörst und dir sehr sicher bist, dass du selbst wirklich keine Filiale brauchst, dann bedenke dennoch, ob du eine Entwicklung begünstigen möchtest, in der nicht mehr jeder Mensch mit Schwerhörigkeit überhaupt die Möglichkeit hat, sich versorgen zu lassen.
Sparen an der falschen Stelle. Hörgeräte sind teuer und die von den Krankenkassen beigesteuerten Beträge sind ein schlechter Witz. Darüber allein könnte ich viele Artikel schreiben, aber das ist ein Thema für ein anderes Mal. Die Situation ist also nunmal die, dass wir Menschen mit Schwerhörigkeit gut in die Tasche greifen müssen, um unser Hörproblem zu lösen und an der Gesellschaft teilzuhaben. Ich kann es verstehen, dass es für manche von euch verführerisch ist, mit dem Onlinehandel Kosten zu sparen. Ich halte es aber für die falsche Stelle zum sparen. Hören ist ein hohes Gut und das sollte uns etwas wert sein.
Ich spreche hier nicht von Menschen, die in finanzieller Not sind. Ich spreche hier von denen unter euch, die bei Hörgeräten ein paar Hundert Euro sparen wollen, um sich stattdessen ein dickeres Auto oder ein paar Cocktails mehr im Urlaub zu leisten. Wenn du durch ein im Onlinehandel gekauftes Hörgerät nicht optimal versorgt bist, dann hast du Lebensqualität verschenkt – im schlimmsten Fall mit gravierenden Folgen (Warum eigentlich Hörgeräte? und Warum sind meine Hörgeräte so laut?). Ich wundere mich immer, dass Menschen ausgerechnet bei Gesundheit sparen. Dabei ist ohne Gesundheit alles nichts.
Zusammenfassung
Ich hoffe, dass der Onlinehandel etwas frischen Wind und ein paar neue Impulse in die Branche bringt. Ich wünsche mir moderne Akustiker, die die Digitalisierung nutzen, um alle ihre Kunden optimal zu versorgen und die menschliche Seite ihres Berufes in den Vordergrund stellen. Dafür bin ich auch bereit, Filialen zu finanzieren, auch wenn ich sie selbst nicht so oft brauche wie manch anderer.
Wirklich guter Beitrag der das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Ich bin Hörakustiker und kann den Aussagen von Frau Velroyen auch aus meinem Blickwinkel von der anderen Seite des Laden-Tischs nur zustimmen.