Als ich mit Ende Zwanzig schwerhörig wurde, witzelten meine Freunde, ob mein schwindendes Gehör denn nun von anderen Sinnesorganen kompensiert würde. Sie stellten sich das vor wie bei manchen Blinden, die unfassbar gut hören oder tasten können.
Leider stellte sich nichts davon ein. Weder kann ich besonders gut riechen, schmecken oder tasten und ich bin noch genauso kurzsichtig wie damals. Wenn überhaupt, denke ich, dass das am ehesten passiert, wenn man den einen Sinn, den man verliert, sehr früh in seiner Kindheit verliert. Mit Ende Zwanzig war ich da schon etwas spät dran.
Mein mangelndes Gehör gleiche ich allerdings mit einer anderen Fähigkeit aus: Organisationstalent. Seit ich schwerhörig bin, muss ich immer besser organisiert sein als alle anderen.
Das Problem liegt darin, dass unsere Welt nicht barrierefrei ist. Und die einzige Person, auf die ich mich verlassen kann, die sich darum kümmert, dass meine Pläne nicht durch Barrieren verhindert werden, bin in den meisten Fällen ich selbst. [1, siehe unten] Immer wenn ich etwas machen will, muss ich mir vorher überlegen, ob dieses Vorhaben Sinn und Spass macht, obwohl ich weniger hören kann. Beispiele:
- Wenn ich ins Theater gehe und es gibt keine Platzkarten, dann muss ich überpünktlich da sein, damit ich als erste in der Schlange stehe, wenn die Türen aufgehen. Denn nur so habe ich eine Chance auf einen Platz in den ersten Reihen, wo die Stimmen der Schauspieler noch am besten zu verstehen sind (wenn sie nicht elektronisch verstärkt werden).
- Wenn ich ins Theater gehe und es gibt Platzkarten, dann muss ich diese oft sehr früh buchen, damit ich noch einen in den vorderen Reihen bekomme. Dass diese dann meist auch teurer sind, kommt noch dazu.
- Wenn ich einen Film im Kino sehen will, dann muss ich meistens länger recherchieren, um ein Kino zu finden, in dem es eine Vorstellung mit Untertiteln gibt. Alternative brauche ich Originalton, weil mich als Lippenabsehende immer irritiert, wenn in übersetzen Filmen der gesprochene Text nicht mit den Lippenbewegungen übereinstimmt. (Mehr dazu in Was an Untertiteln nervt). Wenn es ein Kino gibt mit einer Vorstellung, die meine Bedürfnisse erfüllt, dann heißt das auch schon mal weitere Wege auf sich zu nehmen, also auch wieder mehr Zeit einplanen.
- Wenn ich auf eine Lesung an einem Ort gehe, wo ich die Hoffnung habe, dass sie eine Höranlage anbieten, so muss ich auch erstmal eine Weile dafür recherchieren. Wenn die Dokumentation von solchen Hilfsmitteln auf Webseiten und anderem Informationsmaterial nicht zu finden ist, dann bleibt mir oft nichts anderes übrig, als die Veranstalter anzuschreiben und nachzufragen. Dabei erwische ich auch oft Personal, dass nicht weiss, was eine Höranlage ist und dann fällt mir zusätzlich die Aufgabe der Wissensvermittlung über Höranlagen zu.
- Wenn ich in ein Kunstmuseum gehen möchte, dann muss ich vorher erfragen, ob die angepriesenen Audio-Guide-Systeme denn auch für Hörgeräteträger funktionieren (denn mit handelsüblichen Kopfhörern haben wir so unsere Probleme (siehe Kopfhörer und Hörgeräte).
- Wenn ich zum Arzt gehe, dann verbringe ich die ersten zwei Minuten damit, ihm oder ihr zu erklären, wie sie mit mir kommunizieren müssen (Sichtkontakt, deutlich sprechen, besonders deutlich hinter einer Maske). Das sind zwei Minuten von den fünf, die Ärzte sowieso nur noch Zeit pro Patient haben. Daher komme ich dann besser schon mit meinen Befunden und meinem Anliegen gut sortiert an, denn die Zeit muss ja dann nachgeholt werden.
- Wenn ich beruflich auf eine Schulung fahre, dann muss ich meistens den Anbieter oder Dozenten vorher anschreiben, informieren und weiterbilden. Viele geben sich auch Mühe, ihre Veranstaltung fuer mich barriereärmer zu gestalten, in dem sie z.B. dafür sorgen, dass alle Inhalte auch im vorhinein für mich in schriftlicher Form zur Verfügung stehen. Damit das funktioniert, muss ich schon mindestens zwei Wochen vor der Veranstaltung daran denken, zu schreiben, damit sie diese Unterlagen unter Umständen noch erstellen können.
- Wenn mir samstags abends die Hörgerätebatterien ausgehen, dann habe ich hoffentlich schon Tage dran gedacht, welche zu kaufen. Denn die einzige Alternative ist, zur Notfallapotheke zu fahren oder einen sehr stillen Sonntag zu verbringen. Was sagt es aus über unsere Gesellschaft, dass wir zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Dose Bier an der Tanke kaufen können, aber für die Stromversorgung von medizinischen Geräten im Voraus denken müssen.
- Wenn ich Hörgeräte mit Akkus hätte, dann müsste ich jeden Abend diszipliniert daran denken, diese in die Ladeschale zu legen. Nach einer Party auf dem Sofa einpennen und Ladeschale Ladeschale sein zu lassen, hätte die Konsequenz, dass das Ausnüchtern am nächsten Tag im Stillen stattfinden würde (zugegeben, je nach Kater hätte das vielleicht auch etwas gutes ;)).
Auf den Punkt gebracht, alles im Leben wird ein bisschen komplizierter. Jede Aktivität erfordert, dass ich mich vorher kümmere. Wenn ich das nicht tue, dann bedeutet es oft, dass ich nur die Hälfte der Informationen oder des Genusses mitkriege. Oder ich muss mich sehr viel mehr anstrengen und entsprechend viele Löffel ausgeben, also an anderer Stelle weniger Energie habe (siehe auch Von Löffeln und vom Hören).
Nun ist es so, dass ich vor meiner Schwerhörigkeit schon ein ganz gut organisierter Mensch war. Ich muss jetzt zwar mehr organisieren als vorher, aber das Konzept des “drei Tage (oder mehr) im voraus Denkens“ liegt durchaus in meiner Natur.
Ich frage mich aber oft, wie das für Menschen funktioniert, die eben nicht so gut organisiert sind. Oder auch einfach nicht die Energie haben, wildfremde Leute über ihre Bedürfnisse zu informieren. Oder nicht das Selbstbewusstsein, die nötigen Maßnahmen gegebenenfalls laut und deutlich gegenüber uneinsichtigen Menschen einzufordern. Oder vielleicht auch nicht die technischen Kenntnisse, die Weiterbildung dieser Menschen in Sachen Barrierefreiheit vorzunehmen.
Was machen Menschen, die immer erst am Tag der Veranstaltung feststellen, dass diese eben nicht für sie zugänglich ist? Ich weiss aus Erfahrung, wie frustrierend das ist, wenn man viel Geld oder Zeit verwendet, um zu einer Veranstaltung zu fahren, um dann festzustellen, dass man doch nicht folgen kann.
Ich denke, mit jeder Schippe extra Aufwand, den wir betreiben müssen, um teilzuhaben, verlieren wir Menschen unter uns, die das nicht leisten können. Nach ein paar enttäuschenden Erfahrungen, hören diese Menschen auf, teilzunehmen. Aus den vielen Schippen ist ein massiver Haufen geworden, der sie begraben hat. Sie bleiben mehr und mehr zuhause und in ihrer eigenen Welt.
Das Problem ist nicht, dass mal eine einzelne Veranstaltung anstrengend ist, weil es mit der Barrierefreiheit hapert. Das Problem ist, dass fast jede Veranstaltung so ist – wenn man sich nicht kümmert oder sich die Veranstalter gekümmert haben. Und es trifft eben immer die gleiche Population, nämlich Menschen mit Behinderungen. Die Bürden werden hier nicht auf alle Menschen gleich verteilt. Und wenn alles in unserer Umgebung anstrengend ist, dann ist es nur menschlich, wenn wir uns zurückziehen. Mit allen Folgen der Isolation, die das haben kann.
[1] Ausnahmen sind Veranstaltungen speziell für Menschen mit Schwerhörigkeit oder Behinderungen oder im Themenfeld der Inklusion. Eine weitere Ausnahme sind Veranstaltungen wo andere liebe Menschen, die mich meistens sehr gut kennen, für mich mitdenken. Für diese Menschen in meinem Leben bin ich sehr dankbar.