Raum für Ohren

Dieser Artikel erschien ursprünglich im Bulletin #69 des Organs von «Hindernisfreie Architektur – die Schweizer Fachstelle» unter gleichnamigem Titel.

Man sagt: “Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck.” Der erste Eindruck ist entscheidend dafür, wie sich eine Beziehung oder Zusammenarbeit entwickelt. Ist man einander sympathisch, so beginnt das Miteinander mit Leichtigkeit. War das erste Treffen seltsam, so wird die weitere Zusammenarbeit mühsamer.

Welchen Eindruck Menschen von mir haben, hängt ab von den Räumlichkeiten, in denen sie mich kennenlernen. Es gibt Orte, da nehmen sie mich als freundlichen, kommunikativen und sogar witzigen Menschen wahr. An anderen wirke ich angespannt, in mich gekehrt und sogar unhöflich. Ich bin schwerhörig. Das macht mich abhängig von der Akustik in den Räumen, die mich umgeben.

Neulich ging eins meiner Projekte zu Ende. Mehrere andere Projekte standen zur Auswahl und mein Chef ermutigte mich, mich mit den Teams zu unterhalten und mir eins auszusuchen. Das ist für mich leichter gesagt als getan. Die meisten Kollegen in dieser Situation gehen einfach mit den Teams in der Kantine Mittagessen.

Die Kantine ist ein Ort des schlechten ersten Eindrucks für mich. Sie ist ein großer Raum, mit glatten Böden und Plastikmöbeln. Viele Menschen, Gespräche und das Klappern von Geschirr. Was für viele Menschen ein sozialer Ort ist, ist für mich ein isolierender. Ich habe Mühe, ein Gespräch zu führen. Die Stimmen an den Nebentischen sind zu viel und zu laut, mein Gegenüber zu leise. Ich kann schlecht von den Lippen absehen, wenn Menschen gleichzeitig essen und reden. Die Kantine ist purer Stress für mich und kein Ort der Begegnung.

Als Alternative frage ich eines der Teams, ob ich mich einen Tag lang zu ihnen in ihren Teambereich setzen kann. Hier kann ich die Kollegen dabei beobachten, wie sie miteinander umgehen. Ich kann mich mal zu jedem setzen und in einem Einzelgespräch erfahren, woran der oder diejenige gerade arbeitet. Ich kann mir ihre Arbeit auf ihren Bildschirmen anschauen und das, was sie mir erzählen, von ihren Lippen absehen.

Das ist besser als die Kantine, aber nicht perfekt. Denn das Konzept Großraumbüro ist leider zu beliebt bei Arbeitgebern. Viele Schreibtische in einem großen Raum; das bedeutet, dass viele Menschen nur leise sprechen, denn sie möchten die Kollegen nicht stören. Je leiser sie sprechen, desto weniger kompetent werde ich wahrgenommen, denn statt kluge fachliche Fragen zu stellen, bitte ich vor allem um Wiederholung des Gesagten.

Eines der Teams hatte es verstanden. Sie buchten mir einen kleinen Besprechungsraum, in dem ich nacheinander mit jedem einzeln ein Gespräch hatte – bei gutem Licht und guter Akustik. Auch in der Mittagspause begleitete ich sie. Nachdem sich alle ihr Tablett mit Essen geholt hatten, gingen wir in einen Nebenraum, in dem auch für mich ein entspanntes Gespräch möglich war. Nicht überraschend habe ich mich für dieses Team entschieden.

Manchmal wünschte ich mir, dass Architekten mehr mit den Ohren entwerfen. Orte können Orte der Begegnung oder der Isolation sein. Die Akustik einer Räumlichkeit ist entscheidend. Oft sind es gerade moderne Architekturen aus Stahl und Glas, die besonders sozial isolierend sind, weil in ihnen vor allem der Hall wohnt. Ich wünschte mir mehr Räume wie Hobbithöhlen: niedrige Decken, aufgeteilt in kleine Nischen mit gepolsterten Möbeln – in denen ist Begegnung auch für jemanden wie mich möglich.

Ein Gedanke zu „Raum für Ohren

  1. Auch mir ergeht es so. In großen Räumen, erst recht wenn diese dann auch noch wegen glatter Wände und vielen Fensterflächen hallig sind, kann ich andere Menschen nur sehr schlecht, manchmal sogar überhaupt nicht verstehen. So habe ich es beispielsweise aufgegeben, an unseren jährlichen Wohnungseigentümer-Versammlungen teilzunehmen. Zwar handelt es sich nur um eine Zusammenkunft von gerade mal 8 bis 10 Personen. Doch diese findet im Vereinsraum eines Tennisclubs statt: groß, rechteckig, Laminat-Fußboden, glatt verputze Wände, Fenster ohne Vorhänge. Selbst wenn nur eine Person spricht, hallt dies dermaßen in meinen Ohren, dass ich kaum die Hälfte des Gesprochenen verstehe.

    Auch beim Besuch von Gaststätten habe ich oft – bei ähnlichen Räumlichkeiten – das Problem, dass ich mein Gegenüber schlecht verstehe, ganz abgesehen von den für mich fast schmerzhaften Hintergrundgeräuschen, wie Teller- und Geschirrklappern und laute Unterhaltung und Gelächter von anderen Gästen. Meistesn nehme ich dann meine Hörgeräte raus, um wenigstens mein Essen „in Ruhe“ genießen zu können.

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