Manchmal wäre ich lieber gehörlos

Es gibt Tage, da habe ich meine Schwerhörigkeit satt. Dann möchte ich anders sein. Es mag euch jetzt überraschen, aber mit „anders“ meine ich dann nicht „hörend“. Manchmal wäre ich gerne das Gegenteil. Komplett gehörlos. Nix hören. Niente. Nada. Stille. Und warum? Weil ich es satt habe, zu diskutieren.

Schwerhörigkeit hat eine ganze Bandbreite. Von leicht bis an Gehörlosigkeit grenzend. Ich bin irgendwo im oberen Mittelfeld. Mit guten Hörgeräten komme ich in der Welt der Hörenden aber ganz gut klar. Dennoch wird mir jeden Tag klar gemacht, daß ich eben nicht hörend bin. Ich bin nur nah dran, aber eben nicht ganz. Und das was da fehlt, das führt dazu, daß ich ständig diskutieren muß.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich beim Videoabend bei Freunden nicht darum bitten, daß Untertitel angemacht werden. Es wäre allen klar, daß es nicht anders geht. Als Schwerhörige muß ich immer erklären, daß es vielleicht irgendwie auch ohne geht, aber daß ich mir dann die Hälfte der Handlung des Films aus dem Zusammenhang raten muß. Und das ist anstrengend. Und in meiner Freizeit möchte ich entspannende Dinge tun und mehr Energie gewinnen als verlieren.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich auch im dritten Pandemiejahr niemandem erklären, daß man Videokonferenzen nicht guten Sound und am besten mit Headset macht. Der Sound ist sonst eben nicht „okay“ ist, sondern grottig und daß es verdammt anstrengend ist für Schwerhörige, solchen Leuten stundenlang zuhören zu müssen. Wenn ich gehörlos wäre, dann wären mir solche Nuancen egal, solange die Untertitel funktionieren (und ja, ich weiß, das tun sie bei schlechtem Sound auch weniger).

Wäre ich gehörlos, so hätte der Radfahrer, mit dem ich neulich auf dem Gehweg(!) fast kollidiert bin, wenigstens ein paar Schuldgefühle bekommen. Nachdem er mich fast über den Haufen gefahren hat, hat er mich dann mit „Bist du taub, oder was?“ angebrüllt. Hätte ich ihm diese Frage in Gebärdensprache beantworten können, so hätte er sich hoffentlich ein wenig schuldig gefühlt.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht diskutieren, ob wir das Team-Event in diesem lauten Hipster-Restaurant machen sollten, obwohl das für mich heißt, daß ich nach einer Stunde mühseligem Zuhören müde nach Hause gehen würde. Wäre ich gehörlos, wäre es mir egal ob es im Restaurant laut ist, aber die Organisatoren würden vermutlich direkt einsehen daß ein kommunikatives Event ohne Gebärdensprachendolmetscher keinen Sinn für mich macht.

Wäre ich gehörlos, dann müßte ich nicht erklären, warum ich meine Arzttermine nicht per Telefon vereinbaren will, weil ich Blut und Wasser schwitze, wenn ich mit fremden Leuten sprechen muss, ohne ihr Mundbild zu sehen. Ich könnte es einfach nicht und das würde auch jeder sofort einsehen. Genauso müsste ich keinem Arzt erklären, warum er mir meine Diagnose und Therapieanweisungen schriftlich geben muß, weil nicht gewährleistet ist, daß ich alles mitbekomme, wenn wer mir diese Informationen nur auf der Tonspur und hinter einer Maske gibt.

Wäre ich gehörlos, dann müßte ich nicht tausende Euros in Hörgeräte investieren, weil das, was die Kasse bezahlt, ein Witz ist. Hätte ich einen funktionieren Hörnerv, so könnte ich mich sogar für Cochlea-Implantate entscheiden und bekäme die Vollversorgung bezahlt ohne meine Krankenkasse verklagen zu müssen.

Wäre ich gehörlos, dann würde ich nicht regelmäßig verzweifeln, wenn meine Hörgeräte sich mal wieder kurz vor einer Videokonferenz nicht mit meinem Laptop verbinden wollen. Dann könnten mir Bluetooth-Spezifikationen und -Kompatibilität den Rücken runter rutschen.

Wäre ich gehörlos, dann würden Leute einsehen, daß man mit mir nicht beliebige Videokonferenzsysteme benutzen kann, denn manche haben automatische Untertitel und manche eben nicht. Als Schwerhörige muß man auch die Systeme ohne Untertitel ertragen, obwohl es andere Lösungen auf dem Markt gegeben hätte.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht diskutieren, warum ich auf der Party letztens so wortkarg zu Stefan’s neuer Freundin Annika war. Ob ich denn was gegen sie hätte. Nein, hatte ich nicht, die Akustik war nur schlecht und ich konnte sie kaum verstehen und daher auch kein Gespräch führen mit dem man Beziehungen aufbaut.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich meinen Bekannten nicht erklären, warum ich deren Whatsapp-Sprachnachrichten nicht anhöre. Als Schwerhörige bedeutet es ziemlichen Aufwand Sprachnachrichten abzuhören, denn ich brauche einen ruhigen Ort und eine funktionierende Bluetoothverbindung, damit ich eine Chance habe den Inhalt zu verstehen. Wäre ich gehörlos, so würde mir hoffentlich keiner der mich kennt, überhaupt Sprachnachrichten schicken.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich trotz Schwerhörigkeit nicht mit Ohrenstöpseln schlafen, weil mich dann selbst die tiefen Frequenzen, die ich jetzt noch höre, nicht wecken würden. Die 40-Tonner die vorm Haus vorbeifahren oder das Schnarchen meiner Katze würden mich nicht stören.

Wäre ich gehörlos, so würde mir introvertiertem Nerd keiner erzählen, daß mein persönliches Glück oder meine Karriere davon abhängt, wieviele Freunde oder Netzwerkkontakte ich habe. Ich hätte dann vermutlich weniger Freunde als jetzt, aber dafür die die es so ernst mit unserer Freundschaft meinen, daß sie für mich Gebärdensprache gelernt haben.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich keinem erklären, warum ich diesen oder jenen tollen Podcast nicht kenne, denn wenn sich der oder die Podcastende nicht die Mühe machen, ein Transcript anzubieten, dann kann ich ihnen auch nicht helfen. Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht erklären, warum ich diesen oder jenen Film noch nicht gesehen habe, weil es mal wieder in keinem Streaming-Dienst Untertitel gab und sich auf Amazon oder Ebay nicht herausfinden ließ, ob die DVD nun welche mitliefert oder nicht.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich auch nicht mit den Behörden diskutieren, ob ich nun schon behindert genug bin um als „schwerbehindert“ zu gelten, oder ob ich doch nur eine Gleichstellung verdient habe – wenn überhaupt.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht rechtfertigen, warum ich nach einem Tag in einer lauten Umgebung einfach fertig bin, von dem ganzen Soundprocessing was mein Gehirn trotz guter Hörgeräte den ganzen Tag machen muß. Ich würde ich meiner leisen Welt leben und nicht mühselig lernen abends wieder runterzukommen von dem ganzen Soundmüll, der den ganzen Tag auf mich hereinprasselt.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich mit meinem Arbeitgeber nicht diskutieren ob er mir zu meinem High-End-Hörgerät was zuzahlen sollte, damit ich in meiner schnelllebigen und englisch-sprachigen Arbeitswelt Leistung bringen kann. Ich müßte auch nicht diskutieren ob ich nun dieses oder jenen Accessoire bezahlt bekommen muß, damit ich an unserer technisierten Arbeitswelt teilhaben kann. Wäre ich gehörlos, so wäre es leicht einzusehen, daß ich Schrift- oder Gebärdensprachendolmetscher bräuchte, wenn sie möchten, daß ich mein Gehalt auch in Arbeitsleistung erbringen kann.

Wäre ich gehörlos, dann müsste ich keinem erklären, dass ich so manches Wochenende einfach Zuhause in aller Stille auf dem Sofa verbringen will – an meinen Mann gekuschelt, mit einer Katze auf dem Bauch und mit einem guten Buch in der Hand.

Wäre ich gehörlos, so müßte ich keinem erklären, daß ich gerne auf laute Heavy Metal Konzerte gehe, obwohl es meinem Gehör schaden könnte. Wenn ich gehörlos bin, dann geh ich auf Konzerte um den Bass in meinem Körper zu spüren und ob dann noch ein paar Härchen in meiner Gehörschnecke dabei drauf gehen, wäre mir herzlich egal.

Bei jedem Kontakt mit Gehörlosen sehe ich was sie für eine Gemeinschaft sind. Es ist schön zu sehen, wie diese kommunikative, freundlichen und sozialen Menschen miteinander sprechen, in einer Sprache, die ich nur (noch) nicht kann. Ich weiß, daß gehörlos nicht bedeutet daß man unglücklich ist. Ich sehe, daß man mit Gebärden alles und noch viel mehr ausdrücken kann. Ich freue mich eines Tages vielleicht mal ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein – in der Hoffnung, dass sie besser verstehen wo ich herkomme als die Hörenden.

P. S.: Disclaimer: Ja, mir ist klar, daß gehörlos sein nicht bedeutet, daß das Leben einfach ist. Mir ist bewusst, daß es gerade in Deutschland nicht weit her ist mit der Inklusion von Gehörlosen in der Arbeitswelt und unserer Welt im Allgemeinen. Mir ist bewusst, daß es traurige Konsequenzen haben kann, wenn die Behinderung durch die Hörenden dazu führt, daß man sich oft isoliert fühlt. Mir ist bewusst, daß ich auch als Gehörlose viel für meine Rechte kämpfen müsste. Mir ist bewusst, daß ich dann immer noch viel diskutieren müsste, aber hoffentlich weniger über die Dinge die ich hier beschreibe und die Hörende doch so oft nicht verstehen.

9 Gedanken zu „Manchmal wäre ich lieber gehörlos

  1. Holla, klare Worte! … bei denen ich mich auch schon ertappt habe!
    Ich füge noch was hinzu
    „Wenn ich gehörlos wäre, würde ich meine Tinnitis nicht mehr hören. Nicht, weil ich ihn tatsächlich höre. Er ist ja ein Phantom- Geräusch. Aber mein Hirn blendet ihn mir schon jetzt aus, wenn ich geschlafen nabe. Es ist morgens dann „still“ für mich. Erst, wenn andere Geräusche dazukommen nehme ich ihn wieder war.“

  2. Hallo Helga,

    ein Abschnitt in diesem Artikel macht mich (seit 20 Jahren ehrenamtlich aktiv in der Selbsthilfe und Beratung für Menschen mit Hörverlust) stutzig. Du schreibst:

    „Wäre ich gehörlos, dann müßte ich nicht tausende Euros in Hörgeräte investieren, weil das, was die Kasse bezahlt, ein Witz ist. Hätte ich einen funktionieren Hörnerv, so könnte ich mich sogar für Cochlea-Implantate entscheiden und bekäme die Vollversorgung bezahlt ohne meine Krankenkasse verklagen zu müssen.“

    Wenn Du Hörgeräte trägst und damit noch etwas wahrnimmst – auch, wenn es natürlich nur fragmentarisch ist- dann MUSS dein Hörnerv funktionieren! Und damit wären auch die Voraussetzungen für ein Cochlea Implantat gegeben.

    Woher stammt die Info, dass dein Hörnerv nicht funktionieren würde?

    Wir haben in der Selbsthilfe schon oft erlebt, dass Ärzte vor Jahren fälschlicherweise geäußert haben, dass angeblich der Hörnerv defekt sei – und im Nachhinein stellte sich das als falsch heraus! Betroffen sind in den allermeisten Fällen die Haarsinneszellen im Innenohr und NICHT der Hörnerv!

    Heutezutage lässt sich die Funktionsfähigkeit des Hörnervs objektiv überprüfen (z.B. an HNO-Unikliniken). Vielleicht hilft Dir diese Info weiter? Wenn Du noch Fragen hast, schreib mich gern an.

    Viele Grüße,
    Elke

    • Hallo,

      mir scheint, ich habe mich da etwas missverstaendlich ausgedrueckt.

      Da ich momentan ja mit Hoergeraeten noch ganz gut klar komme, gehe ich auch davon aus, dass mein Hoernerv noch gut funktioniert.

      Aber die Situation die ich hier beschreibe ist ja hypothetisch. Wenn es soweit ist, dass ich vielleicht doch gehoerlos werde, dann weiss ich ja noch nicht warum dem so ist und es kann ja durchaus sein, dass dann mein Hoernerv nicht mehr funktioniert. Ich habe das in einem Halbsatz erwaehnt, weil ich nicht darstellen wollte, dass Cochlea Implantate fuer jeden eine Loesung sind, sondern eben nur, wenn man noch einen funktionierenden Hoernerv hat.

      Sollte es soweit sein, so werde ich natuerlich ueberpruefen lassen. Vielen Dank schon einmal fuer die Info, wo man das machen kann. Fuer mich ist es (noch) nicht relevant, aber ich glaube es ist ein guter Tip fuer manche meiner Leser.

      Lieben Dank fuer deinen Beitrag mit diesen Zusatzinformationen!

      Schoene Gruesse,
      Helga

  3. Liebe Helga,

    mit Interesse folge ich seit einiger Zeit still deinem Blog und freue mich über neue Gedanken, interessante Tipps und manchmal einfach nur darüber, dass ich mit den Problemen, die meine »hochgradige Hochtonperzeptionsstörung beidseits« verursacht, nicht alleine bin. Dafür möchte ich dir herzlich danken. Schön, dass du dir so viel Arbeit machst und dabei mir und vielen anderen hilfst.

    Ganz kurz zu mir: Schon seit Jahren sollte ich Cochlea-Implantate tragen, da ich nur noch schlecht mit meinen Hörgeräten klarkomme. Als Freiberufler gar nicht so einfach zu realisieren, deshalb schiebe ich es immer so vor mich hin. Aber auch mit meinem immer schlechter werdenden Hörverstehen werden sich irgendwann harte Fragen hinsichtlich meiner beruflichen Existenz stellen.

    Helga, dein Blogeintrag listet viele Probleme auf, mit denen wir »taube Nüsse« täglich zu kämpfen haben. Dennoch hat mir der Unterton deines Textes überhaupt nicht gefallen.

    Denn obwohl ich manchmal verzweifeln möchte bei all den Problemen, dem fehlenden sozialen Kontakt, dem alltäglichen Kofferradiosound auf den Ohren, den nervenden Störgeräuschen, den Missverständnissen und und und bin ich dennoch jeden Tag dankbar dafür, dass ich noch etwas hören kann: Die Worte meiner Lieben, das Lachen meiner Freunde, den Laster auf der Straße. Ich bin dankbar dafür, dass ich rudimentär mitbekomme, wie sich die Filmmusik beim Untertitel »traurige Musik« anhört und ich hören kann, dass jetzt Frühling ist und die Vögel singen, auch wenn es manchmal wehtut, dass diese Geräusche nicht mehr so schön sind wie sie einmal waren.

    Helga, ich würde mir niemals wünschen, gehörlos zu sein. NIEMALS. Auch nicht in einem Blogeintrag, der vielleicht gar nicht so gemeint war.

    Weißt du, warum Cochlea-Implantate üblicherweise nur einzeln implantiert werden und nicht beide gleichzeitig, wie zum Beispiel in dem ansonsten hervorragenden Film »Sound of Metal«? Weil die Suizidrate bei beidseitig Implantierten so hoch ist (Ausnahme sind Kinder mit angeborener Gehörlosigkeit, bei denen ärztlich empfohlen wird, die CIs gleichzeitig einzusetzen).

    Helga, bedenke, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen. Oder um Margret Thatcher zu zitieren: »Achte auf deine Gedanken, denn sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie werden deine Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie bilden deinen Charakter. Und achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.«

    Liebe Grüße
    Claus

    • Lieber Claus,

      danke für deinen Kommentar. Es freut mich, dass du schon seit einiger Zeit hier mitliest.

      Mir war beim Schreiben dieses Artikels bewusst, dass der kontrovers sein wird. Wie bei den meisten Artikeln in diesem, meinem persönlichen Blog, darf ich natürlich meine subjektive Wahrnehmung und auch mal die Emotionen darstellen, mit denen ich als schwerhöriger Mensch konfrontiert bin.

      Hätte man mich am Anfang meiner „schwerhörigen Zeit“ gefragt, ob ich lieber gehörlos wäre, hätte ich wie du geantwortet, dass ich mir das NIEMALS vorstellen könnte. Aber gerade deshalb fand ich es aufschreibenswert, als mir immer mal wieder auch der vermeintlich „gegenteilige“ Gedanke kam. Ich kann mir vorstellen, dass es zwar nicht der Mehrheit der Schwerhörigen so geht, aber schon mehr als nur mir selbst. Und diesen Menschen möchte ich auch zeigen, dass sie nicht alleine sind, wenn sie sich manchmal bei dem Gedanken erwischen „dass vieles dann doch einfacher wäre“.

      Wenn Menschen sich eine Schwerhörigkeit (oder auch eine Behinderung allgemein) zuziehen, so machen sie gemeinhin einen Trauerprozess durch. Der hat mehrere Phasen und unter anderem auch „Wut“ Phasen, wo man einfach mal wütend ist auf die Tatsache, dass man etwas verloren hat oder die Barrieren, auf die man deshalb stößt. Mein Artikel ist sicherlich in einer dieser Phasen entstanden, aber es kommen bestimmt auch wieder positivere Phasen. Wie du vielleicht schon gelesen hast, sind ja durchaus auch heitere Stimmungen in meinen Blogartikeln vertreten. Was ich damit ausdrücken möchte, ist, dass Wut zum Verarbeitungsprozess dazu gehört und phasenweise auch ganz normal ist.

      Etwas was mir geholfen hat, meine Schwerhörigkeit zu verarbeiten und zu akzeptieren, habe ich vor Jahren mal in dem Buch von Dale Carnegie „Sorge dich nicht, lebe!“ gelesen. Menschen, die mit ungewissen Situationen klar kommen müssen, können sich mit dieser Strategie helfen: man stelle sich den schlimmstmöglichen Ausgang der Situation vor und dann denke man darüber nach, ob man damit klar käme. Ich habe eine Schwerhörigkeit unbekannten Ursprungs und damit auch unbekannter Zukunft. Ich weiss nicht, ob ich eines Tages mal gehörlos werde, denn mir kann niemand garantieren, dass meine Schwerhörigkeit für immer mit Hörgeräten versorgbar bleibt. Das hat mir am Anfang sehr viel Angst bereitet. Aber dann habe ich Dales Worte befolgt und mir vorgestellt, wie das denn so ist gehörlos zu sein. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon Kontakte zu gehörlosen Menschen und mich auch darüber hinaus über das Thema eingehend informiert. Damit kam ich zu dem Schluss, den ich am Ende meines Artikels anreisse: Gehörlosigkeit ist nicht das Ende der Welt. Sollte es für mich soweit kommen, so werde ich damit auch ein glücklicher Mensch sein können. Insofern hat es mir geholfen, und vielleicht hilft auch dieser wütende Artikel anderen Schwerhörigen in einer ähnlichen Situation, keine Angst mehr vor der Zukunft zu haben.

      Ich möchte mich dennoch sehr für deinen Kommentar bedanken. Ich denke es ist wichtig, viele Facetten der Schwerhörigkeit zu beleuchten und ich freue mich immer ueber eine respektvolle und vielfältige Diskussion in meinem Blog, zu der du beigetragen hast.

      Liebe Gruesse,
      Helga

    • Hallo Claus,

      Du schreibst in deinem Kommentar, dass „Cochlea-Implantate (bei Erwachsenen) üblicherweise nur einzeln implantiert werden und nicht beide gleichzeitig (…)“, da „die Suizidrate bei beidseitig Implantierten so hoch“ sei.

      Aus welcher Quelle stammen diese wissenschaftlich nicht haltbaren Behauptungen?

      Fakt ist: Ob ein Erwachsener ein oder direkt zwei CIs erhält, hängt ab von

      1) Dem Ausmaß des Hörverlusts. Teils gibt es auch bei hochgradig Hörgeschädigten mit Hörgeräten noch ein „besseres“ Ohr, weshalb auf dieser Seite noch abgewartet wird mit einer Implantation.

      2) Manchmal stellt sich die Krankenkasse quer und genehmigt bei Erwachsenen erst mal nur ein CI. Die Situation hat sich inzwischen gebessert, aber solche Fällle erleben wir in der Selbsthilfe/Beratung auch heute noch.

      Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Personen mit bilateraler CI-Versorgung eine höhere Lebensqualität angeben als unilateral Versorgte. Die verbesserten auditiven Fähigkeiten stehen in direktem Zusamnenhang mit einer Verbesserung der psychosozialen Situation (siehe hierzu z.B. Jahrestagung der Deutschen Geselllschaft für Audiologie in Erfurt 2022). 97% der CI-TrägerInnen würden sich wieder für CI entscheiden – das ergab eine Umfrage unseres Selbsthilfeverbands CIV HRM e.V. unter rund 600 Betroffenen.

      Um es einmal glasklar zusammenzufassen: Ein angeblicher Zusammenhang zwischen bilateraler Implantation und „Suizidrate“ ist unhaltbar.

      Es ist vielmehr genau umgekehrt: Cochlea Implantate sind für viele Verzweifelte das Licht am Ende des Tunnels und können entscheidend zu einer Verbesserung der Lebenssituation beitragen.

      Mit freundlichen Grüßen
      Elke Schwaninger
      Selbsthilfe und Beratung für Menschen mit Hörverlust / CIV HRM e.V.

      • Liebe Elke,

        als ich mich 2019 das erste Mal mit Cochlear-Implantaten auseinandersetzte, las ich, dass die CIs bei hochgradiger Schwerhörigigkeit beiseits üblicherweise zeitversetzt implantiert werden, da u. a. die mehrwöchige Taubheit zwischen OP und postoperativer Anpassung eine große psychische Belastung darstelle. Das hat mich sehr beeindruckt, da ja bei allen Patienten die berechtigte Hoffnung auf baldige und entscheidende Besserung besteht.

        Deshalb habe ich das Helga auch als Beispiel genannt, um meiner Meinung Ausdruck zu verleihen, dass ihr zeitweiser Wunsch nach Gehörlosigkeit keine Petitesse und ganz bestimmt nicht erstrebenswert ist. Denn Hören ist etwas ganz Wertvolles, das wissen wir Schwerhörigen am allerbesten. Das heißt nicht, dass Gehörlose kein glückliches Leben führen können und die, die den Hörverlust als Deaf Gain, d. h. als Gewinn definieren, im Unrecht sind. Und man kann sich die ganze Sache, wie Helga und Dale Carnegie es beschreiben, auch einmal vorstellen, um seinen Ängsten entgegenzutreten.

        Mit meiner Antwort habe ich lediglich versucht, Helga eine andere Sichtweise aufzuzeigen. Dankbar zu sein für das, was sie noch hat.

        Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich noch Freunde habe, die die Mühen einer Konversation mit mir auf sich nehmen, aber würde mir keine Illusionen darüber machen, dass die mal eben ein paar Jahre lang Gebärdensprache für mich lernen. Ich bin dankbar dafür, dass fast alle neueren Filme, Serien und Nachrichten Untertitel haben und würde mich nie darüber ärgern, Freunde darum bitten zu müssen, die beim Videoabend anzumachen. Ich bin dankbar für jede induktive Höranlage, jedes Videokonferenzsystem mit Untertiteln, jedes Systemupdate meines Smartphones mit Hörverbesserungen, jeden Fortschritt in der CI-, Mikrofon- und Batterietechnologie (totally implantable CI usw.) und die vielen Dinge, die noch kommen werden. Und ich bin dankbar für die Menschen wie dich, liebe Elke, die sich dafür lautstark einsetzen und sofort dazwischengrätschen, wenn etwas Falsches behauptet wird.

        Und jetzt komme ich (endlich! 🙂 auf dein eigentliches Anliegen zurück.

        Elke, ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe. Mich hat es, wie ich schon zu Beginn schrieb, beim Lesen beeindruckend, deshalb kann ich mich noch so gut daran erinnern. Ich habe es auch nicht weiter hinterfragt, weil ich es grundsätzlich nachvollziehbar fand. Und dass eine bilaterale CI-Versorgung zu Suiziden führt, habe ich nie behauptet, aber es ist gut, dass du deren Vorteile in deinem Kommentar ausführlich betonst.
        Mir wurde 2019 empfohlen, zunächst nur das „noch schlechtere“ Ohr mit einem CI zu versorgen, obwohl die behandelnde Ärztin zu mir sagte, dass ich spätestens nach einem Jahr auch das zweite Ohr versorgt habe wolle. Auch alle beidseitigen CI-Träger, mit denen ich bisher sprach, haben ihre Implantate um einige Monate oder Jahre zeitversetzt erhalten. Aber du verfügst ganz bestimmt über mehr Expertise in dieser Sache. Und wenn du dich dahingehend äußerst, dass keine medizinischen Gründe gegen eine _zeitgleiche_ bilaterale CI-Implantation von postlingual Ertaubten bei entsprechender Indikation sprechen, dann möchte ich mich für die Falschinformation, die ich ungeprüft weitergab, ganz herzlich bei dir, Helga und allen Lesern entschuldigen.

        Liebe Grüße
        Claus

        • Lieber Claus,

          danke für deine ausführliche und freundliche Rückmeldung.

          Heutzutage muss eine „mehrwöchige Taubheit“ zwischen CI-OP und Erstanpassung nicht unbedingt sein, denn:

          1) Zum einen gibt es die Möglichkeit, restgehörerhaltend zu operieren. Das macht Sinn, wenn die tiefen Frequenzen noch relativ gut gehört werden, die hohen – für das Sprachverstehen entscheidenden!-Frequenzen jedoch mit Hörgerät nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden. Bei der restgehörerhaltenden OP wird eine spezielle, kürzere Elektrode benutzt, die das noch vorhandene eigene Gehör schont.
          Der Prozessor, den man dann außen am Ohr trägt, ist ein Hybrid aus Hörgerät (für die tiefen Frequenzen) und CI-Prozessor. Die Methode nennt sich elektro-akustische Stimulation.

          2) Viele Kliniken bieten heute eine sog. „frühe Anpassung“ des Prozessors an. Allererste Höreindrücke können damit bereits 2-3 Tage nach der OP gemacht werden. Durch minimalinvasive OP-Technik verläuft die Wundheilung heute in der Regel schneller und die Wartezeit bis zur eigentlichen Erstanpassung ist dann kürzer. Einen Bericht zur Frühanpassung findest Du unter dem Stichwort „Meine Erfahrung mit der Frühanpassung“ auf der „Ohrenseite“ (über Google einfach diese Stichworte eingeben). Dort findest Du auch viele weitere Erfahrungsberichte von CI-TrägerInnen. Die „Ohrenseite“ ist Teil unserer Selbsthilfearbeit und enthält rund 400 Erfahrungsberichte von Betroffenen. Dies noch als ergänzende Info für Dich.

          Alles Gute für deine Ohren und herzliche Grüße!
          Elke Schwaninger
          Selbsthilfe und Beratung für Menschen mit Hörverlust / CIV HRM e.V.

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