Es gibt Tage, da habe ich meine Schwerhörigkeit satt. Dann möchte ich anders sein. Es mag euch jetzt überraschen, aber mit „anders“ meine ich dann nicht „hörend“. Manchmal wäre ich gerne das Gegenteil. Komplett gehörlos. Nix hören. Niente. Nada. Stille. Und warum? Weil ich es satt habe, zu diskutieren.
Schwerhörigkeit hat eine ganze Bandbreite. Von leicht bis an Gehörlosigkeit grenzend. Ich bin irgendwo im oberen Mittelfeld. Mit guten Hörgeräten komme ich in der Welt der Hörenden aber ganz gut klar. Dennoch wird mir jeden Tag klar gemacht, daß ich eben nicht hörend bin. Ich bin nur nah dran, aber eben nicht ganz. Und das was da fehlt, das führt dazu, daß ich ständig diskutieren muß.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich beim Videoabend bei Freunden nicht darum bitten, daß Untertitel angemacht werden. Es wäre allen klar, daß es nicht anders geht. Als Schwerhörige muß ich immer erklären, daß es vielleicht irgendwie auch ohne geht, aber daß ich mir dann die Hälfte der Handlung des Films aus dem Zusammenhang raten muß. Und das ist anstrengend. Und in meiner Freizeit möchte ich entspannende Dinge tun und mehr Energie gewinnen als verlieren.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich auch im dritten Pandemiejahr niemandem erklären, daß man Videokonferenzen nicht guten Sound und am besten mit Headset macht. Der Sound ist sonst eben nicht „okay“ ist, sondern grottig und daß es verdammt anstrengend ist für Schwerhörige, solchen Leuten stundenlang zuhören zu müssen. Wenn ich gehörlos wäre, dann wären mir solche Nuancen egal, solange die Untertitel funktionieren (und ja, ich weiß, das tun sie bei schlechtem Sound auch weniger).
Wäre ich gehörlos, so hätte der Radfahrer, mit dem ich neulich auf dem Gehweg(!) fast kollidiert bin, wenigstens ein paar Schuldgefühle bekommen. Nachdem er mich fast über den Haufen gefahren hat, hat er mich dann mit „Bist du taub, oder was?“ angebrüllt. Hätte ich ihm diese Frage in Gebärdensprache beantworten können, so hätte er sich hoffentlich ein wenig schuldig gefühlt.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht diskutieren, ob wir das Team-Event in diesem lauten Hipster-Restaurant machen sollten, obwohl das für mich heißt, daß ich nach einer Stunde mühseligem Zuhören müde nach Hause gehen würde. Wäre ich gehörlos, wäre es mir egal ob es im Restaurant laut ist, aber die Organisatoren würden vermutlich direkt einsehen daß ein kommunikatives Event ohne Gebärdensprachendolmetscher keinen Sinn für mich macht.
Wäre ich gehörlos, dann müßte ich nicht erklären, warum ich meine Arzttermine nicht per Telefon vereinbaren will, weil ich Blut und Wasser schwitze, wenn ich mit fremden Leuten sprechen muss, ohne ihr Mundbild zu sehen. Ich könnte es einfach nicht und das würde auch jeder sofort einsehen. Genauso müsste ich keinem Arzt erklären, warum er mir meine Diagnose und Therapieanweisungen schriftlich geben muß, weil nicht gewährleistet ist, daß ich alles mitbekomme, wenn wer mir diese Informationen nur auf der Tonspur und hinter einer Maske gibt.
Wäre ich gehörlos, dann müßte ich nicht tausende Euros in Hörgeräte investieren, weil das, was die Kasse bezahlt, ein Witz ist. Hätte ich einen funktionieren Hörnerv, so könnte ich mich sogar für Cochlea-Implantate entscheiden und bekäme die Vollversorgung bezahlt ohne meine Krankenkasse verklagen zu müssen.
Wäre ich gehörlos, dann würde ich nicht regelmäßig verzweifeln, wenn meine Hörgeräte sich mal wieder kurz vor einer Videokonferenz nicht mit meinem Laptop verbinden wollen. Dann könnten mir Bluetooth-Spezifikationen und -Kompatibilität den Rücken runter rutschen.
Wäre ich gehörlos, dann würden Leute einsehen, daß man mit mir nicht beliebige Videokonferenzsysteme benutzen kann, denn manche haben automatische Untertitel und manche eben nicht. Als Schwerhörige muß man auch die Systeme ohne Untertitel ertragen, obwohl es andere Lösungen auf dem Markt gegeben hätte.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht diskutieren, warum ich auf der Party letztens so wortkarg zu Stefan’s neuer Freundin Annika war. Ob ich denn was gegen sie hätte. Nein, hatte ich nicht, die Akustik war nur schlecht und ich konnte sie kaum verstehen und daher auch kein Gespräch führen mit dem man Beziehungen aufbaut.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich meinen Bekannten nicht erklären, warum ich deren Whatsapp-Sprachnachrichten nicht anhöre. Als Schwerhörige bedeutet es ziemlichen Aufwand Sprachnachrichten abzuhören, denn ich brauche einen ruhigen Ort und eine funktionierende Bluetoothverbindung, damit ich eine Chance habe den Inhalt zu verstehen. Wäre ich gehörlos, so würde mir hoffentlich keiner der mich kennt, überhaupt Sprachnachrichten schicken.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich trotz Schwerhörigkeit nicht mit Ohrenstöpseln schlafen, weil mich dann selbst die tiefen Frequenzen, die ich jetzt noch höre, nicht wecken würden. Die 40-Tonner die vorm Haus vorbeifahren oder das Schnarchen meiner Katze würden mich nicht stören.
Wäre ich gehörlos, so würde mir introvertiertem Nerd keiner erzählen, daß mein persönliches Glück oder meine Karriere davon abhängt, wieviele Freunde oder Netzwerkkontakte ich habe. Ich hätte dann vermutlich weniger Freunde als jetzt, aber dafür die die es so ernst mit unserer Freundschaft meinen, daß sie für mich Gebärdensprache gelernt haben.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich keinem erklären, warum ich diesen oder jenen tollen Podcast nicht kenne, denn wenn sich der oder die Podcastende nicht die Mühe machen, ein Transcript anzubieten, dann kann ich ihnen auch nicht helfen. Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht erklären, warum ich diesen oder jenen Film noch nicht gesehen habe, weil es mal wieder in keinem Streaming-Dienst Untertitel gab und sich auf Amazon oder Ebay nicht herausfinden ließ, ob die DVD nun welche mitliefert oder nicht.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich auch nicht mit den Behörden diskutieren, ob ich nun schon behindert genug bin um als „schwerbehindert“ zu gelten, oder ob ich doch nur eine Gleichstellung verdient habe – wenn überhaupt.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich nicht rechtfertigen, warum ich nach einem Tag in einer lauten Umgebung einfach fertig bin, von dem ganzen Soundprocessing was mein Gehirn trotz guter Hörgeräte den ganzen Tag machen muß. Ich würde ich meiner leisen Welt leben und nicht mühselig lernen abends wieder runterzukommen von dem ganzen Soundmüll, der den ganzen Tag auf mich hereinprasselt.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich mit meinem Arbeitgeber nicht diskutieren ob er mir zu meinem High-End-Hörgerät was zuzahlen sollte, damit ich in meiner schnelllebigen und englisch-sprachigen Arbeitswelt Leistung bringen kann. Ich müßte auch nicht diskutieren ob ich nun dieses oder jenen Accessoire bezahlt bekommen muß, damit ich an unserer technisierten Arbeitswelt teilhaben kann. Wäre ich gehörlos, so wäre es leicht einzusehen, daß ich Schrift- oder Gebärdensprachendolmetscher bräuchte, wenn sie möchten, daß ich mein Gehalt auch in Arbeitsleistung erbringen kann.
Wäre ich gehörlos, dann müsste ich keinem erklären, dass ich so manches Wochenende einfach Zuhause in aller Stille auf dem Sofa verbringen will – an meinen Mann gekuschelt, mit einer Katze auf dem Bauch und mit einem guten Buch in der Hand.
Wäre ich gehörlos, so müßte ich keinem erklären, daß ich gerne auf laute Heavy Metal Konzerte gehe, obwohl es meinem Gehör schaden könnte. Wenn ich gehörlos bin, dann geh ich auf Konzerte um den Bass in meinem Körper zu spüren und ob dann noch ein paar Härchen in meiner Gehörschnecke dabei drauf gehen, wäre mir herzlich egal.
Bei jedem Kontakt mit Gehörlosen sehe ich was sie für eine Gemeinschaft sind. Es ist schön zu sehen, wie diese kommunikative, freundlichen und sozialen Menschen miteinander sprechen, in einer Sprache, die ich nur (noch) nicht kann. Ich weiß, daß gehörlos nicht bedeutet daß man unglücklich ist. Ich sehe, daß man mit Gebärden alles und noch viel mehr ausdrücken kann. Ich freue mich eines Tages vielleicht mal ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein – in der Hoffnung, dass sie besser verstehen wo ich herkomme als die Hörenden.
P. S.: Disclaimer: Ja, mir ist klar, daß gehörlos sein nicht bedeutet, daß das Leben einfach ist. Mir ist bewusst, daß es gerade in Deutschland nicht weit her ist mit der Inklusion von Gehörlosen in der Arbeitswelt und unserer Welt im Allgemeinen. Mir ist bewusst, daß es traurige Konsequenzen haben kann, wenn die Behinderung durch die Hörenden dazu führt, daß man sich oft isoliert fühlt. Mir ist bewusst, daß ich auch als Gehörlose viel für meine Rechte kämpfen müsste. Mir ist bewusst, daß ich dann immer noch viel diskutieren müsste, aber hoffentlich weniger über die Dinge die ich hier beschreibe und die Hörende doch so oft nicht verstehen.
Oh, meine Gedanken wurden hier in aller Klarheit dargelegt!
Ganz herzlichen Dank dafür!
Holla, klare Worte! … bei denen ich mich auch schon ertappt habe!
Ich füge noch was hinzu
„Wenn ich gehörlos wäre, würde ich meine Tinnitis nicht mehr hören. Nicht, weil ich ihn tatsächlich höre. Er ist ja ein Phantom- Geräusch. Aber mein Hirn blendet ihn mir schon jetzt aus, wenn ich geschlafen nabe. Es ist morgens dann „still“ für mich. Erst, wenn andere Geräusche dazukommen nehme ich ihn wieder war.“
Hallo Helga,
ein Abschnitt in diesem Artikel macht mich (seit 20 Jahren ehrenamtlich aktiv in der Selbsthilfe und Beratung für Menschen mit Hörverlust) stutzig. Du schreibst:
„Wäre ich gehörlos, dann müßte ich nicht tausende Euros in Hörgeräte investieren, weil das, was die Kasse bezahlt, ein Witz ist. Hätte ich einen funktionieren Hörnerv, so könnte ich mich sogar für Cochlea-Implantate entscheiden und bekäme die Vollversorgung bezahlt ohne meine Krankenkasse verklagen zu müssen.“
Wenn Du Hörgeräte trägst und damit noch etwas wahrnimmst – auch, wenn es natürlich nur fragmentarisch ist- dann MUSS dein Hörnerv funktionieren! Und damit wären auch die Voraussetzungen für ein Cochlea Implantat gegeben.
Woher stammt die Info, dass dein Hörnerv nicht funktionieren würde?
Wir haben in der Selbsthilfe schon oft erlebt, dass Ärzte vor Jahren fälschlicherweise geäußert haben, dass angeblich der Hörnerv defekt sei – und im Nachhinein stellte sich das als falsch heraus! Betroffen sind in den allermeisten Fällen die Haarsinneszellen im Innenohr und NICHT der Hörnerv!
Heutezutage lässt sich die Funktionsfähigkeit des Hörnervs objektiv überprüfen (z.B. an HNO-Unikliniken). Vielleicht hilft Dir diese Info weiter? Wenn Du noch Fragen hast, schreib mich gern an.
Viele Grüße,
Elke
Hallo,
mir scheint, ich habe mich da etwas missverstaendlich ausgedrueckt.
Da ich momentan ja mit Hoergeraeten noch ganz gut klar komme, gehe ich auch davon aus, dass mein Hoernerv noch gut funktioniert.
Aber die Situation die ich hier beschreibe ist ja hypothetisch. Wenn es soweit ist, dass ich vielleicht doch gehoerlos werde, dann weiss ich ja noch nicht warum dem so ist und es kann ja durchaus sein, dass dann mein Hoernerv nicht mehr funktioniert. Ich habe das in einem Halbsatz erwaehnt, weil ich nicht darstellen wollte, dass Cochlea Implantate fuer jeden eine Loesung sind, sondern eben nur, wenn man noch einen funktionierenden Hoernerv hat.
Sollte es soweit sein, so werde ich natuerlich ueberpruefen lassen. Vielen Dank schon einmal fuer die Info, wo man das machen kann. Fuer mich ist es (noch) nicht relevant, aber ich glaube es ist ein guter Tip fuer manche meiner Leser.
Lieben Dank fuer deinen Beitrag mit diesen Zusatzinformationen!
Schoene Gruesse,
Helga