Seit Herbst 2021 schreibe ich als freie Autorin für die Audio Infos. Dieser Artikel ist ursprünglich in der Audio Infos Ausgabe Dezember 2021 unter dem gleichen Titel erschienen. Audio Infos ist die Fachzeitschrift für Akustiker*innen, https://www.audio-infos.de/.
Wir schreiben das Jahr 2052. Vier Jahre zuvor hatte eine nukleare Katastrophe ein mutiertes Virus erschaffen und 90% der Menschheit infiziert. Die Krankheit schädigt das Erbgut und vererbt sich auf die folgenden Generationen. Die Symptome sind Schwerhörigkeit bis hin zur Gehörlosigkeit. In dieser Welt sind die Hörenden zur Minderheit geworden.
Mit der Ausbreitung stieg die Nachfrage nach Hörsystemen rasant. Zunächst resultierte das in horrenden Preissteigerungen. Doch die Industrie reagierte schnell und skalierte die Produktion hoch. Nach nur einem Jahr hatte der Markt der Hörgeräte und Cochlea Implantate das Niveau von Kommunikatoren erreicht. Kommunikatoren nennt man heute die Nachfolger dessen was Anfang des Jahrhunderts noch “Mobiltelefon” hiess. Nach dieser Entwicklung fielen die Preise massiv.
Parallel dazu gab es Proteste der Bevölkerung als diese registrierte, dass gute Hörsysteme nur zu einem Bruchteil von den Krankenkassen bezuschusst werden. Die Gesetzgebung sah sich gezwungen, die Bezuschussung massiv zu erhöhen. Endlich waren Systeme mit gutem “Sprache in lauter Umgebung” Programm nicht mehr nur den Gutverdienenden vorbehalten.
Man realisierte wie wenig die Hersteller bisher miteinander kooperierten. Der Ruf nach Standardisierung und Interkompatibilität wurde laut. Es folgten Gesetzesvorgaben für branchenweite Schnittstellen zwischen Hörsystemen, Accessoires, Unterhaltungs- und Arbeitsgeräten, sowie Veranstaltungstechnik. Diese mussten innerhalb des nächsten Entwicklungszykluses erfüllt werden, sonst wurden neue Hörsysteme nicht mehr zugelassen. Endlich konnten Nutzer beliebig zwischen Herstellern und Endgeräten wechseln ohne Angst zu haben, dass es mit dem nächsten Kommunikator nicht funktioniert.
Als nächstes folgte eine Verkürzung der Austauschzyklen. Keiner hatte mehr Verständnis dafür, dass man sechs Jahre warten muss um in den Genuss moderner Technik zu kommen. Die Regularien wurden geändert; jeder hat nun ein Anrecht auf ein neues System alle zwei Jahre.
Desweiteren wurden weitere die Schnittstellen innerhalb von den Systemen freigegeben, sowohl für Hardware, als auch für Software. Man hat nun die Wahl ob man sich ein neues Hörsystem kauft, oder zum Beispiel nur den Akku gegen einen grösseren oder den Prozessor gegen einen neuen tauscht. Auch kann man nun beliebige Softwareerweiterungen bei spezialisierten Händlern erwerben, z.B. wenn man sich einen Algorithmus für einen besonders schönen Klang von baritonen Stimmen gönnen möchte. Es gibt Hörsystemfreaks ähnlich wie Autobastler vor 30 Jahren, die in ihrer Garage an ihrem Opel schraubten. Es ist eine Gemeinschaft von Bastlern, die Hörsysteme aufschrauben, modifizieren und individuelle Anpassungen vornehmen.
Auch wurden Hörsysteme über Nacht zu Modeaccessoires. Die Farbpalette der Hersteller wandelte sich von “von hellbeige zu grau” zu einem wahren Regenbogen. Die Industrie bringt halbjährlich neue Kollektionen an Oberschalen in den aktuellen Trendfarben und -Mustern heraus. Man versteckt Hörsysteme nicht mehr, sondern trägt sie stolz zur Schau, passend zur Farbe des Nagellacks.
Auch wurden Hörsysteme ein Prestigesymbol ähnlich wie Autos Anfang des Jahrhunderts. Wer neue Geräte bekommt, zeigt sie stolz im Freundeskreis herum – Freunde erblassen vor Neid wenn die Geräte eine Leistungsklasse über ihren eigenen liegen.
Die Toleranz für akustisch schlechte Orte ist immens gesunken. Laute Restaurants gehen schnell pleite. Die Menschen sind es satt, keine Gespräche mehr beim Essen führen zu können. Das Gesundheitsamt ist neuerdings auch für Hörgesundheit zuständig. Restaurants dürfen nur noch eröffnen, wenn sie strenge Geräuschpegelobergrenzen einhalten. Schalldämpfende Bestuhlung und dicke Vorhänge haben Einzug in jedes Gebäude gehalten. Statt hallenden Sälen mit dicht gedrängten Tischen, gestaltet man nun viele kleine Nischen, in denen man sich abgeschirmt vom Nachbartisch in Ruhe unterhalten und essen kann. Auch die laute Espressomaschine hinter der Bar gehört der Vergangenheit an. Für diese ist nun ein schalldichter Nebenraum vorgeschrieben.
Nach all den Jahren sickerte die Erkenntnis durch, dass Audiosignale kein zuverlässiges Medium mehr ist. Es gab einen Wandel hin zu textbasierter Kommunikation. Fernsehsender und Streamingdienste, die keine Untertitel anbieten, verlieren massiv Zuschauer. Es sind nicht einmal gesetzliche Regeln nötig; der Markt regelt nun, dass es überall Untertitel gibt.
Die Menschen hörten auf, sich auf gesprochenen Sprache zu verlassen. Die Gebärdensprachen hielten Einzug. In allen Ländern ist nun die jeweilige Gebärdensprache als weitere Amtssprache anerkannt. Kinder lernen sie schon ab dem Kindergarten. Der Beruf des Gebärdensprachdolmetschers ist ausgestorben. Zum einen gab es kaum noch Hörende, die ihn ausüben konnten. Zum anderen waren ihre Dienste einfach nicht mehr nötig.
Mein Wecker klingelt. Mit einem Lächeln auf den Lippen wache ich auf. Einen Moment lang brauche ich bis ich realisiere, dass es 2021 ist. Während ich mir die Zähne putze, denke ich über diesen Traum nach. Ich habe Mühe mich zu entscheiden ob ich ihn gut oder schlecht finde.
Ich hoffe der Espresso wird in einem Raum mit Fenster zubereitet. Ich würde es vermissen zu sehen wie der Kaffee in die Tasse kommt und sich die Crema oben drauf bildet … Kann man die Zubereitung per Live-Stream auf dem Display der Datenbrille beobachten?
Ansonsten finde ich Deine ‚Vision‘ zu 110% schön.
Sehr interessantes Gedankenspiel. Es wäre schön, wenn wir die von Dir beschriebene gesellschaftlichen und technisches Errungenschaften auch ohne nuklear mutierte Viren hätten 🙂 Als normalhörender ärgere ich mich ebenfalls, wenn die Akustik schlecht, die Musik zu laut oder der Filmton schlecht abgemischt ist. Videospiele spiele ich z.B. immer mit Untertitel und Restaurants, wo ich kein Gespräch führen kann, meide ich.
Ich fände es auch schön, wenn dafür kein Virus nötig wäre. Aber leider werden die meisten solcher Entscheidungen ja von (mehrheitlich) hörenden Menschen getroffen. :/