Sichtbarkeit von Hörgeräten

Wenn ich Hörgeräte-Neulingen nur einen einzigen Tipp geben dürfte, dann wäre es dieser: lass die Sichtbarkeit von Hörgeräten außer acht wenn du dir welche aussuchst. Wenn es etwas gibt was viel zu viel Bedeutung bekommt, dann ist es (Un-)Sichtbarkeit. Hörgeräte sollten sichtbar sein. Die Welt sollte Hörgeräte sehen. Das ist besser für dich als schwerhöriger Mensch, besser für deine Umgebung, für andere Schwerhörige und auch für den Rest der Welt. Ich erkläre hier warum.

Was uns die Hörgeräte-Industrie suggerieren will

Wenn man sich das Werbematerial von Hörgeräteherstellern und Akustikern anschaut, so sollte man meinen dass „kleiner, diskreter, unsichtbarer“ die wichtigste Werbebotschaft überhaupt ist. Ich habe mal einen Produktmanager eines Hörgeräteherstellers gesprochen und ihn gefragt, warum das so ist. Seine Antwort war dass das die Botschaft ist, die sie von ihrer Marktforschung bekommen. Gelinde gesagt, ich bezweifel ob das wirklich so ist, bzw. noch so ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass man vor 30 Jahren als Hörgeräte tatsächlich groß, klobig und hässlich waren, als Befragter in einer Marktforschungsstudie sagt „die sollten kleiner sein“.

Mein Eindruck ist allerdings, dass die Hörgeräteindustrie in den letzten 30 Jahren vor allem auf Minimalisierung der Größe optimiert hat und übers Ziel hinaus geschossen ist. Hörgeräte sind schon seit 10 Jahren klein genug als dass ihre Größe nicht mehr stört, aber es wird trotzdem alles immer kleiner gemacht. Dabei werden Kompromisse eingegangen, die meiner Meinung nach nicht mehr im Sinne eines schwerhörigen Menschens sind.

Vielleicht hängt die Hörgeräte-Industrie immer den Ergebnissen 30 Jahre alter Marktforschung nach. Wenn man sich zum Beispiel neuere Zahlen anguckt, dann sieht das anders aus. Das Forschungsprojekt Hear How You Like To Hear hat eine Umfrage über Hearables (also allgemein „tragbare Technik zum Hören“, worunter auch Hörgeräte fallen) gemacht. Unter anderem wurde dort gefragt wie wichtig den Menschen die Sichtbarkeit von Hörgeräten ist. Und heraus kam folgendes:

Quelle: Dieses Video.

In diesem Video präsentiert die Projektleiterin des Forschungsprojektes die Ergebnisse dazu wie sichtbar denn Hörgeräte sein müssen und ob nicht im Gegenteil sie durchaus sichtbar sein könnten um wie ein modisches Accessoire getragen zu werden. Was hier interessant ist, dass Menschen die bereits Hörgeräte tragen mit großer Mehrheit das befürworten. Menschen die (noch) keine Hörgeräte tragen sind da etwas zögerlicher, aber die Tendenz ist auch hier in diese Richtung. Und bei letzteren ist natürlich die Frage, inwieweit hier noch das „kleiner, diskreter, unsichtbarer“ der Werbung der Hörgeräte-Industrie beeinflusst. Zusammenfassend kann man hier also sagen, dass die Menschen die die Vorzüge von Hörgeräte bereits erlebt haben, um so eher finden dass sie sichtbar sein sollten.

Warum Hörgeräte sichtbar sein sollten

Deine Umgebung nimmt nur Rücksicht, wenn sie es sieht

Ich fange hier mit dem meiner Meinung nach wichtigsten Grund an: auch mit guten Hörgeräten, wird dein Hören nicht perfekt sein und damit wirst du nach wie vor darauf angewiesen sein, dass deine Umgebung Rücksicht auf dich nimmt. Mit Rücksicht meine ich so Dinge wie Blickkontakt herstellen wenn sie dich ansprechen (fürs Lippenlesen), nicht durcheinander reden, nicht reden wenn gerade vorm Fenster ein lautes Auto vorbei fährt oder ein Kind im Raum schreit, oder ein Restaurant auszuwählen, was nicht ganz so laut ist. Wenn deine Umgebung deine Hörgeräte nicht sieht, wird sie all diese Dinge nicht tun und dein Leben wird schwerer sein als es muss. Und selbst wenn du es den Menschen deiner Umgebung schonmal gesagt hast, werden sie es vergessen, wenn sie nicht visuell daran erinnert werden.

Ich nenne hier an dieser Stelle immer folgendes Beispiel. In einer Firma gibt es mehrere Besprechungsräume. Aufgrund baulicher Einschränkungen ist einer davon nur über eine Treppe erreichbar. Die meisten Leute die hier zu einer Besprechung einladen, würden vielleicht daran denken, dass der Kollege im Rollstuhl diesen Raum nicht erreichen kann. Der Rollstuhl des Kollegen ist viel präsenter und mit dem Kollegen assoziiert als z.B. unsichtbarere Behinderungen. Im Vergleich dazu muss ich ständig meine Kollegen daran erinnern bei einer Besprechung die Fenster zu schließen, weil der Straßenlärm es für mich unmöglich macht der Besprechung zu folgen. Wenn ich meine Behinderung also nicht sichtbar machen würde, dann müsste ich ganz alleine mit den Folgen der halb verpassten Besprechung klar kommen.

Je kleiner desto mehr Kompromisse

Weil die Hörgeräte-Hersteller nach wie vor die Größe von Hörgeräte minimieren, machen sie auf dem Weg dorthin viele Kompromisse, die zum Nachteil von uns Hörgeräte-Trägern sind. Einfach gesagt, wenn man es klein baut, kann man nicht alles einbauen. Das heißt, je kleiner des Hörgeräte, desto kleiner (und weniger leistungsfähig) der Prozessor, desto kleiner die Mikros, desto weniger Antennen für Verbindungsmöglichkeiten zu anderen Geräten und desto weniger Batterie- oder Akkuleistung.

Wenn man ein Hörgeräte-Neuling ist, so ist einem vielleicht noch nicht so ganz klar, was man hier opfert. Ein weniger leistungsfähiger Prozessor kann z.B. heißen, dass die Störlärmunterdrückung nicht so gut sein wird wie sie sein könnte. Und was hilft es dir, wenn man deine Hörgeräte zwar nicht sieht, aber du beim Sonntagsbrunch in einem lauten Cafe kein Wort deiner Freunde verstehst oder du am frühen Abend schon deine Hörgeräte in die Ladeschale legen musst, weil der Akku keinen ganzen Tag hält.

Ein kleines Beispiel hierfür:

Vergleich von zwei Hoergeraeten: Phonak Bolero (6 Jahre alt) und Phonak Audeo Marvel
Dies ist ein Vergleich meines 6-Jahre alten Hoergeraetes (Phonak Bolero) und meines neuen von 2019 (Phonak Audeo Marvel).

Das Bild zeigt eins meiner alten Hörgeräte im Vergleich zu meinem neuen von 2019. Es ist fast um einen 1cm kleiner. Das alte Hörgerät war schon ziemlich klein, ich hätte es nicht kleiner gebraucht. Stattdessen fände ich es besser, wenn das neue Hörgerät mehr Akkuleistung hätte. Da mir die Akkuleistung in der Tat zu gering war, habe ich mich letztendlich für die Batterie-Variante entschieden.

Die Stigmatisierungs-Spirale

Ein Grund Hörgeräte verstecken zu wollen ist natürlich die Angst vor Stigma. Hörgeräte stehen für „Behinderung“ oder „alt werden“. Der Wunsch dem zu entgehen ist nachvollziehbar, aber auf lange Sicht ist das Verstecken von Hörgeräte hier nicht hilfreich.

Hörgeräte stünden nicht für „alt werden“, wenn sie generell präsenter in allen Altersstufen der Gesellschaft wären. Würden wir auch die ganzen 30-Jährigen mit Hörgeräten sehen, dann kommt es uns weniger als ein Aspekt des Älterwerdens vor.

Beim Stigma Behinderung gibt es einen ähnlichen Aspekt. Wenn wir diese Behinderung immer verstecken, dann sieht die Welt auch nicht, dass wir trotz dieser Behinderung tolle Dinge leisten können. Wenn es keine Vorbilder mit Hörgeräten gibt, dann werden sich Kinder mit Hörgeräten nie trauen große Ziele zu haben und in der Folge diese dann auch nicht erreichen.

Solltest du dich entscheiden, deine Hörgeräte sichtbar zu tragen, trägst du dazu bei diese Stigmata abzubauen.

Feiert die Technik

Mein letzter Punkt kommt aus dem Herzen eines technikverliebten Menschen. Moderne Hörgeräte sind eigentlich verdammt coole Technik. Überlegt mal, was die alles können. Hörgeräte müssen exzellente Signalverarbeitung unter sehr herausfordernden Bedingungen machen. Bei der Signalverarbeitung muss alles in Echtzeit passieren, sonst kommt es zu Echos. Hörgeräte müssen sehr haltbar und widerstandsfähig sein und das obwohl sie mehrere Jahre täglich 16-18 Stunden getragen werden und das auch beim Sport oder in Eiseskälte. Diese kleinen Geräte hinter deinen Ohren sind technische Meisterwerke, an die kaum eine Consumer-Elektronik, wie Kopfhörer, Mobiltelefone, Fernseher oder Stereoanlagen herankommen.

Anstatt diese Technik zu verstecken und zu stigmatisieren, sollten wir sie hervorzeigen. Anstatt sie zu verheimlichen, sollten wir damit genauso angeben wie wir es mit unserem coolen neuen Staubsaugerroboter tun würden. Anstatt sie unter den Haaren zu tarnen sollten wir sie mit Stolz tragen wie unsere chicen neuen Ohrringe.

Zusammenfassung

Ich hoffe ich habe mit diesem Artikel ein wenig klar machen können, warum es viele Vorteile hätte, wenn Hörgeräte sichtbarer wären:

  • Nur wenn man deine Hörgeräte sieht, wird deine Umgebung daran erinnert auf deine Behinderung Rücksicht zu nehmen und dir das Leben und Arbeiten nicht unnötig schwer zu machen.
  • Je kleiner die Hörgeräte, desto mehr Abstriche machst du bei der Leistung und damit der Qualität deines Hörens.
  • Je mehr du sie versteckst, desto mehr förderst du die Stigmata die ihnen anhaften.
  • Hörgeräte sind tolle Technik. Wir sollten sie feiern, statt sie zu verstecken.

4 Gedanken zu „Sichtbarkeit von Hörgeräten

  1. …da kann ich nur zustimmen!
    Als jemand, der schon immer (und immer noch) gerne laut Musik hört würde ich wünschen, dass die Hersteller den Frequenzumfang erweitern, also in Richtung der Soundqualität von „normalen“ Kopfhörern. Dadurch steigt der Energieverbrauch deutlich, die Systeme können dann nicht extrem klein sein. Es sollte kein Problem sein, dafür eine Designlösung zu finden, die stylisch und cool ist.

  2. Kann man das wirklich heute noch so sagen? Je kleiner das Hörgerät, desto kleiner die Leistung? Verbindungsmöglichkeiten zu anderen Geräten und gute Batterie- oder Akkuleistung gibt es doch mittlerweile auch bei kleinen Geräten.

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