Von Löffeln und vom Hören

Heute ein etwas nachdenklich machendes Thema. Ich empfehle diesen Artikel nicht nur meinen Lesern die selber schwerhörig sind, sondern insbesondere den Menschen in eurer Umgebung. Unsere lieben Mitmenschen verstehen manche unserer Verhaltensweisen danach vielleicht besser. Vielleicht möchtet ihr diesen Artikel um so mehr in eurem Freundeskreis verbreiten.

Es geht um die Löffel-Theorie, auf Englisch „Spoon Theory“ genannt. Es ist ein Versuch den Alltag von Menschen mit Behinderungen auf eine Art zu beschreiben die die unsichtbaren Konsequenzen von Behinderungen sichtbar und verständlicher macht. Der Begriff Löffel-Theorie wurde durch den entsprechenenden original Artikel von Christine Miserandino geprägt. Christine nimmt als Beispiel einen Menschen mit einer Krankheit bei der man dauerhaft Schmerzen hat. Das Prinzip lässt sich aber auch auf andere unsichtbare Behinderungen – wie zum Beispiel eine Schwerhörigkeit übertragen. Was heißt die Löffel-Theorie für Menschen wie uns?

Was hat es mit den Löffeln auf sich?

Die Löffel-Theorie besagt, dass jeder Mensch, ob mit Behinderung oder ohne, jeden Tag eine gewisse Menge Energie zur Verfügung hat. Diese wurde in dem Beispiel mit Löffeln dargestellt. Dabei dienen die Löffel nur als Repräsentation einer Einheit Energie, es könnten auch andere Gegenstände sein. Wenn du diese Theorie mal zitieren solltest, kannst du alles mögliche nehmen was sich gerade in deiner Umgebung befindet: Zahnstocher, Bierdeckel oder verlorene Socken aus der Waschmaschine.

Was haben Löffel mit Schwerhörigkeit zu tun?

Jeder Mensch hat jeden Tag einen Vorrat an Energie den er oder sie verbrauchen kann. Die Theorie besagt, dass Menschen mit Behinderungen oft für alltägliche Aktivitäten mehr Energie, also Löffel, ausgeben müssen als nicht-behinderte Menschen. So haben sie oft am Ende des Tages keine Energie mehr für die schönen Dinge im Leben.

Ein Beispiel: Stefanie und Nadine

Machen wir es konkret. Schauen wir uns einen Tag im Leben von Stefanie und Nadine an. Stefanie hat eine profunde Schwerhörigkeit und trägt beidseitig gute Hörgeräte. Nadine ist hörend. Sie sind beide Mitte 30 und arbeiten in der gleichen Firma im gleichen Büro.

Zu Beginn des Tages haben beide ein Energie-Reservoir von 24 Löffeln. Stefanies Löffel sind hier in blau und Nadines in grün dargestellt.

Stefanies Löffel
24 grüne Löffel
Nadines Löffel

Beide stehen morgens auf, frühstücken und machen sich bereit das Haus zu verlassen. Sie fahren mit der Ubahn von ihren jeweiligen Wohnungen zur Arbeit. Um die Zeit des Pendelns unterhaltsam zu gestalten, hören sie jeweils ein Hörbuch in der Bahn. Stefanie kostet das einen Löffel, denn sie muss erst ein paar technische Probleme lösen bis sie ihren Bluetooth-Adapter ans Laufen gekriegt hat und die Stimme des Hörbuchsprechers an ihr Ohr kommt. Auch muss sie sich mehr anstrengen die Stimme aus den Hintergrundgeräuschen in der Bahn herauszuhören. Gleichzeitig muss sie immer wachsam sein um nicht die Ansage ihrer Haltestelle zu verpassen. Das Hörbuchhören kostet Stefanie den ersten Löffel des Tages. Nadine hat noch alle ihre Löffel.

23 blaue Löffel
Stephanie hat 23 Löffel

Stefanie und Nadine arbeiten in dem gleichen Büro. Es ist ein Großraumbüro mit über 40 Kollegen in einem großen Raum. Es ist laut, die Kollegen telefonieren und quatschen miteinander, der Kopierer und die Kaffeemaschine surren im Hintergrund. Stefanie und Nadine werden hier über 8 Stunden ihres Tages verbringen. Arbeiten im Großraumbüro ist anstrengend, auch für Hörende, aber für uns Schwerhörige noch mehr, weil wir mehr Probleme haben Vorder- von Hintergrundgeräuschen zu unterscheiden (siehe der Cocktailparty-Effekt). Ein Tag in diesen Bedingungen kostet Stephanie 6 Löffel, Nadine allerdings auch 3. Stefanie hat ihren Chef übrigens mehrmals gefragt ob sie nicht wegen ihrer Schwerhörigkeit ein ruhigeres Büro bekommen kann. Die Antwort war allerdings „Nein.“, weil das Neid unter den Kollegen hervorrufen würde, weil das normalerweise eine Annehmlichkeit ist, die der Chefetage vorbehalten ist. Die Loeffel Situation sieht also so aus:

17 blaue Löffel
Stephanie hat 17 Löffel
21 grüne Löffel
Nadine hat 21 Löffel

Um die Mittagszeit gehen beide in die Kantine. Leider ist diese auch gross und laut und um 12 Uhr sehr voll. Stephanie wuerde eigentlich lieber zu einer Randzeit gehen, aber dann kann sie nicht mit den Kollegen zusammen essen und das hilft nicht dabei Anschluss im Team zu behalten. Die Gespraeche mit den Kollegen in der lauten Kantine kosten Stephanie drei Loeffel. Nadine hat keine Probleme und im Gegenteil findet das gemeinsame Mittagessen mit den Kollegen immer als willkommene und erholsame Pause.

14 blaue Löffel
Stephanie hat noch 14 Löffel

Über den Tag hinweg haben Stephanie und Nadine verschiedene Besprechungen in Person, per Telefon oder Videokonferenz. Je nach akustischer Situation, sind diese mehr oder weniger anstrengend für die beiden:

  • Die erste Videokonferenz hatte extrem schlechte Verbindungen und so waren Bild und Ton qualitativ sehr eingeschränkt. Hier alles mitzubekommen kostet Stephanie zwei Löffel, Nadine aber auch einen.
  • Eine weiterer Call findet nur per Telefon ohne Video statt. Stephanie kompensiert Dinge die sie nicht hören kann durchs Lippenlesen, aber ohne Videobild geht das natürlich nicht. Sie muss sich sehr viel mehr anstrengen um alles mitzubekommen. Diese Telefonat kostet sie 2 Löffel. Nadine keinen.
  • Die nächste Besprechung ist mit einer Kollegin einer anderern Abteilung. Diese hat eine extrem hohe Stimme und redet immer recht leise. Stephanie muss sich sehr anstrengen um das meiste des Gespräches von den Lippen zu lesen. Das kostet sie einen weiteren Löffel. Nadine keinen.
  • Eine weitere Besprechung steht an. Der Kollege der immer so in seinen Bart nuschelt. Stephanie hat hier auch wenig Chancen von den Lippen zu lesen. Diese Besprechung kostet sie 2 Löffel. Nadine hat aber auch so ihre Problem ihn zu verstehen. Sie verliert einen Löffel.
  • Als letzte Aktivität des Arbeitstages haben Stefanie und Nadine eine Schulung die sie sich per Video an ihren Rechner anschauen. Leider ist das Trainingsvideo nicht besonders gut gemacht. Es ist nur auf Englisch verfügbar, also nicht in Stefanies und Nadines Muttersprache. Der Instrukteur hat einen starken französischen Akzent. Es gibt keine Untertitel und die angezeigten Folien sind auch nicht sehr text-lastig. Nadine hat keine Probleme dem Training zu folgen, weil ihr Englisch sehr gut ist. Als Hörende hatte sie bessere Chancen diese Fremdsprache zu erlernen. Das Training kostet sie keinen Löffel. Stephanie hingegen muss eine Überstunde machen, um den Inhalt des Trainings nochmal im 200-seitigen Handbuch nachzulesen. Das kostet sie 3 Löffel.

Am Ende des Büro-Tages sieht die Löffel Situation also wie folgt aus:

19 grüne Löffel
Nadine hat 19 Löffel
4 blaue Löffel
Stephanie hat 4 Löffel

Die Kollegen vom Nebentisch fragen die beiden ob sie noch auf ein After-Work-Bier mitkommen möchten. Die bevorzugte After-Work-Kneipe ist sehr laut und zwei Stunden beim Bierchen den Kollegen zu zuhören würde Stefanie 5 Löffel kosten, die sie nicht mehr hat. Nadine findet die Gespräche in der lauten Kneipe auch anstrengend, aber mit einem guten Gehör kostet sie das nur 2 Löffel. Sie geht mit. Stefanie lässt die Gelegenheit ziehen, auch wenn diese als Networking-Möglichkeit gut für ihre Karriere gewesen wäre.

Nach der Arbeit, beziehungsweise nach dem After-Work-Bier, kommen beide bei sich zuhause an. Die Löffel-Situation sieht so aus:

17 grüne Löffel
Nadine hat 17 Löffel
4 blaue Löffel
Stephanie hat 4 Löffel

Stephanie hat nur noch 4 Löffel übrig um den Abend zu verbringen. Es reicht gerade dafür ein Fertiggericht in die Mikrowelle zu schmeißen, es schweigend in sich hinein zu löffeln. Danach schaut sie eine Folge ihrer Lieblingsserie und schläft auf dem Sofa ein.

Nadine hat noch eine ganze Menge Löffel übrig um den Abend zu genießen. Sie probiert ein neues Rezept aus und kocht sich ein gesundes Essen. Dabei führt sie eine angeregte Unterhaltung mit ihrem Partner. Nach dem Essen ruft sie ihre Freundin an und quatscht ein Stündchen bevor sie ins Bett geht. Vor dem Einschlafen liest sie noch eine weitere Stunde einen komplizierten Thriller.

Was sagt uns die Löffel-Theorie über Schwerhörigkeit?

  • Schwerhörigkeit bedeutet Energieverlust. Auch wenn man Schwerhörigkeit nicht sehen kann (es sei denn man guckt uns aufmerksam hinter die Ohren), so kostet sie uns viel Energie.
  • Hörgeräte können nicht alles ausgleichen. Gute Hörgeräte und vor allem gut eingestellte Hörgeräte helfen dabei, aber auch sie können nicht alle Situationen meistern. Oft sind die akustischen Bedingungen einfach nicht ideal und es kostet uns zu viel Energie die Nachteile auszugleichen (Hintergrundgeräusche, schlechte Audio und Video-Qualität, kein Lippenbild, oder Gespräche außerhalb unserer Muttersprache etc.)
  • Wir müssen uns entscheiden. Die Energie die wir damit verbrauchen die Nachteile unserer Behinderung auszugleichen können wir nicht für andere Dinge ausgeben. So kommt es durchaus oft vor, dass wir nach einem Arbeitstag keine Energie mehr haben und somit unsere Freizeit nur damit verbringen uns für den nächsten Tag zu erholen.
  • Man kann die Energiereserven nicht auf Dauer überziehen. Manchmal „überziehen“ wir auch unser Energie-Reservoir in dem wir an einem Tag mehr Löffel ausgeben als wir eigentlich haben. Dann haben wir am nächsten Tag um so weniger Energie zur Verfügung. Ein Zeichen dass das passiert, ist zum Beispiel wenn wir keine Energie am Wochenende mehr haben, weil wir unter der Woche zu viel für die Arbeit ausgegeben haben. Auf die Dauer ist das nicht nachhaltig für unseren Geist und Körper.

Was kann helfen?

  • Sich bewusst werden. Ein erster Schritt ist es sich der Situation bewusst zu werden. Es ist normal, dass wir als Schwerhörige gezwungen sind für viele alltägliche Dinge mehr Energie auszugeben als es Hörende tun müssen. Die Realität ist, dass wir dadurch öfter Kompromisse machen müssen und uns gut überlegen müssen wofür uns die Energie wert ist.
  • Klar kommunizieren. In meinem Freundeskreis bin ich mittlerweile dazu übergangen klar zu kommunizieren, wenn ich etwas nicht machen möchte, weil es zu viel Energie kostet. Wenn man das so tut, lernt deine Umgebung das und hat hoffentlich Verständnis für deine Situation. So ist es z.B. völlig okay zu sagen „Nein, ich werde am Wochenende den Star-Wars Film-Guck-Marathon nicht mitmachen, weil ich keine 9 Stunden Filme ohne Untertitel gucken mag. Dann bin ich für den Rest des Wochenendes hinüber und habe mich nicht von der Woche erholt.“
  • Bessere akustische Bedingungen schaffen. Wenn möglich, hilft es natürlich bessere Hörbedingungen zu schaffen. Das liegt leider nicht immer in deiner Macht, z.b. siehe die Situation mit dem Großraumbüro. Doch viele Dinge liegen auch in unserer Macht: gute Hörgeräte auswählen (wenn man sie bezahlen kann), sie gut einstellen lassen, lernen wie man mit ihnen und der zugehörigen Technik (z.B. der Bluetooth-Adapter) umgeht, die Kollegen bitten bei der Videokonferenz die Kamera eingeschaltet zu lassen und für gutes Licht und guten Ton zu sorgen, Filme mit Untertiteln gucken, Besprechungen wenn möglich in Person und nicht per Telefon zu machen etc.
  • Energiefresser bewusst reduzieren. Wenn aufgrund der Energie vor allem die Work-Life-Balance in Schieflage gerät, so ist es auch eine Option eventuell (wenn man es sich leisten kann) weniger zu arbeiten. Es ist durchaus legitim nach einer Teilzeit-Option zu fragen, wenn man dadurch langfristig nicht jedes Wochenende nur damit verbringt die Energiereserven für die Arbeit wieder aufzuladen. Das Leben ist zu kurz um nur zu arbeiten.

Zusammenfassung

Ich hoffe ich konnte dir in diesem Artikel die Löffel-Theorie an einem anschaulichen Beispiel aus dem Leben von Schwerhörigen näher bringen. Die Löffel-Theorie ist eine Art zu erklären, warum eine Schwerhörigkeit wie viele Behinderungen vor allem durch Energieverlust zum Ausdruck kommt. Alltägliche Situationen kosten uns mehr Energie als die Hörenden. Dadurch müssen wir vorsichtiger auswählen wofür wir sie verwenden.

Ein Gedanke zu „Von Löffeln und vom Hören

  1. Ein toller Text, der mir als Betroffener im Vergleich mit Nichtbetroffenen zeigt, wo genau die Unterschiede sich bemerkbar machen! Einen kleineren „Energiehaushalt“ zur Verfügung zu haben – damit werde ich künftig mehr argumentieren.

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