Meine Teenagerzeit war in den 90ern. Ich gehöre zur Generation Walkman oder auch “Kassettenkind”. Wie für vermutlich viele Teenager war uns Musik sehr wichtig. Stundenlang haben wir mit unseren Walkmans Musik gehört. Wir haben Kassetten gekauft, Musik aus dem Radio aufgenommen und Mixtapes zusammengestellt. Musik war (und ist) Lebensqualität, Entertainment, aber auch Identität und Zugehörigkeitsgefühl.

Dabei haben wir nicht nur alleine mit unserem Walkman Musik gehört. Der Walkman mit Stöpsel-Kopfhörern ermöglichte, dass man die gleiche Musik zur gleichen Zeit auch mit einer/m Freund:in hören konnte. Das taten wir, indem jeder von uns einen der Ohrenstöpsel nahm und somit (zumindest einohrig) die gleiche Musik hören konnte. Das Kabel der Kopfhörer war dann nicht das einzige, was uns verbannt, sondern dadurch auch der gemeinsame Musikgenuss.
Nach den Walkmans kamen Discmans, danach MP3-Player und schließlich war das Smartphone das Gerät zum Musik abspielen. Zunächst hatten noch alle einen Klinkenanschluss und damit die Möglichkeit Kabel-Ohrenstöpsel anzuschließen. Dann kam Bluetooth – eine moderne, drahtlose Technologie. Damit konnte man Kopfhörer (auch in Ohrenstöpsel-Form) nutzen, ohne dass ein Kabel von den Ohren baumelte. Davon kann man natürlich auch eine an den/die Freundin geben und somit einohrig gemeinsam Musik hören – wenn man denn Ohrenstöpsel benutzen kann.

Und das ist der Haken – wenn man schwerhörig ist und Hörsysteme nutzt. Trägt man Hörgeräte, so ist der Platz im Ohr schon “besetzt”. (Ausführlich habe ich hier schon zum Thema Kopfhörer und Hörgeräte geschrieben). Trägt man Cochlea Implantate, so ist es zwecklos einen Ohrenstöpsel ins Ohr zu stecken, denn ein CI “hört” mit den Mikrofonen des Soundprozessors und die sitzen meist hinterm Ohr oder noch weiter hinten am Kopf. Als Hörsystemträger bleibt uns das gemeinsame einohrige Musikhören also verwehrt.
Viele Hörsysteme können mittlerweile Bluetooth nutzen, aber das löste bisher das Problem nicht. Die bisher verfügbaren Bluetoothvarianten klassisches Bluetooth, Made for iPhone und ASHA können leider immer nur ein Gerät zum abspielen der Musik mit einem (Paar) Kopfhörer oder Hörsysteme koppeln. Das heißt, ich kann leider nicht sowohl meine Hörgeräte als auch die Bluetooth-Kopfhörer meines Mannes gleichzeitig mit meinem Handy koppeln und mit ihm gemeinsam das gleiche hören.
Ich kann leider auch nicht Bluetooth mit meinen Hörgeräten benutzen und die Kabelkopfhörer meines Mannes für ihn anschließen. Das Problem ist, dass die meisten Geräte (sofern sie überhaupt noch einen Klinkenanschluss haben) nur einen Ausgabekanal erlauben und man sich also für Kabel oder Bluetooth entscheiden muss. (Wie man sowas für manche Hörgeräte trotzdem noch hinkriegt, erfordert ziemliches Gebastel und ist hier beschrieben: Videokonferenzen zu zweit an einem Ort – Hörende*r und Hörgeräteträger*in).
Jetzt könnte man sagen, naja, aber ist das nicht eher ein zweitrangiges Szenario? Könnt ihr nicht einfach jeder euer Handy benutzen und gleichzeitig beim gleichen Lied auf “Play” drücken? Hm, ja, aber ist das wirklich das gleiche? Ich finde diese Art der Anwendung hat einen höheren Stellenwert verdient, als viele ihr geben.
Neulich kam ein Kollege zu mir, weil er eine Frage zu Hörsystemen hatte. Seine kleine Tochter ist gehörlos und trägt ein Cochlea Implantat. Seine andere Tochter hört gut. Das Problem ist, dass sie nicht gemeinsam auf ihrem Tablet Videos gucken und Spiele spielen können. Also zumindest nicht, ohne den Ton laut zu machen und die ganze Umgebung zu nerven (mal davon abgesehen, dass die Übertragung durch die Luft nur Nachteile hat: siehe dazu Abschnitt „Warum direkt verbinden?“ in Verbindungsmöglichkeiten von Hörgeräten). Es ist das gleiche Problem, und es wird hier möglicherweise die geschwisterliche Bindung der beiden Mädchen beeinflussen.

Aber es gibt gute Aussichten. Es gibt einen neue Bluetooth Variante, die das Problem lösen wird: Bluetooth Low Energy Audio – oder auch Auracast genannt. Damit kann man Musik auf Hörsysteme (die das unterstützen) streamen. Der “cast” Teil des Namens Auracast kommt von “Broadcast”, welches für “Rundfunk”, “Sendung” oder “Ausstrahlung” steht. Das betont die Möglichkeit eines Senders an viele Empfänger und das ist eine der Eigenschaften von Auracast. Im Gegensatz zu bisherigen Bluetooth-Varianten, kann es ein sendendes Gerät mit mehreren Empfängern verbinden. In unserem Szenario wird dann das Handy zum Sender und du und deine Freund:in, mit der du zusammen Musik hören willst, werden die Empfänger.
Auracast ist designed für verschiedene Arten von Empfängern, sowohl herkömmliche Kopfhörer als auch Hörsysteme. Das heisst also, auch wir als Hörgeräteträger können sowohl mit anderen Hörsystemträgern als auch mit nicht-schwerhörigen Menschen mit Kopfhörern zusammen Musik hören. Es ist also die kabellose Funkvariante der geteilten Ohrenstöpsel aus den 90ern.
Auracast beschränkt die Anzahl der Empfänger auch nicht auf zwei. Das heißt, es ist eigentlich sogar besser als zu Walkman-Zeiten. Wir können unsere Musik nicht nur mit unserer/m besten Freund:in teilen, sondern gleich mit unserer ganzen Clique.
Die Tatsache, dass Auracast broadcasten kann, wird oft eher damit beworben, dass es z.B. in Veranstaltungsräumen den Sound übertragen kann. Hier denkt man aber eher an Theater, Kinos oder Opernhäuser, wo Auracast vermutlich bisherige induktive oder FM Höranlagen ersetzen wird. Das ist auch ein wichtiges Szenario, aber ich glaube, das Broadcasten im Kleinen – vom Handy zu einer Handvoll guten Freunden – ist das, was Auracast eigentlich populär machen wird.
Nun fragt ihr euch bestimmt, wie ihr das bekommen könnt. Das ist eine gute Frage. Da Auracast erst 2022 spezifiziert wurde, dauert es noch, bis Geräte entwickelt und auf den Markt gebracht werden, die es unterstützen – und das sowohl auf der Sender- als auch der Empfängerseite. Bei Hörgeräten gibt es bisher eine Marke, die bereits Auracast-fähige Hörgeräte anbietet (Resound). Viele andere Hersteller ziehen aber nach und bieten bereits Auracast-bereite (“Auracast ready”) Hörgeräte an. Auracast-bereite Hörgeräte haben bereits alle Hardware, also die Antennte verbaut, und werden in den nächsten Jahren die Auracast-Funktionalität als Softwareupdate freischalten.
Auch bei Auracast-fähigen Sendern tut sich auch was. Es gibt bereits die ersten Geräte, die man im Raum aufstellen kann und die dann im ganzen Raum Auracast-Signale verbreiten können. Die sind also mehr für das Veranstaltungsszenario gedacht. Aber auch bei Handys tut sich was – hier kommt uns die Gesetzgebung in den USA zugute. Dort gab es vor einer Weile eine Verabschiedung eines Gesetzes, dass alle Mobiltelefone in der Zukunft kompatibel zu Hörsystemen sein müssen. (Die offizielle Regelung auf Englisch gibt es hier.) Theoretisch könnten nun natürlich alle Mobiltelefonhersteller eine Induktionsschleife in ihre Geräte einbauen, aber das werden sie meiner Vermutung nach nicht tun, denn es ist viel einfacher für sie, stattdessen neuere Bluetooth-Antennen einzubauen, die Auracast können und damit das Gesetz erfüllen. Das heißt, in ein paar Jahren wird es vollkommen normal sein, dass jedes Handy Auracast kann.
Ich freue mich darauf, wenn es soweit ist. Endlich wird es uns als Menschen mit Schwerhörigkeit wieder möglich sein, mit unseren liebsten Menschen gemeinsam Musik zu hören.