Seit Herbst 2021 schreibe ich als freie Autorin für die Audio Infos. Dieser Artikel ist ursprünglich in der Audio Infos Ausgabe November 2021 unter dem gleichen Titel erschienen. Audio Infos ist die Fachzeitschrift für Akustiker*innen, https://www.audio-infos.de/.
Schwerhörigkeit ist heutzutage oft gut versorgbar mit Hörgeräten. Als ich Ende der 2000er schwerhörig wurde, war mir allerdings noch lange nicht bewusst, wie komplex dieses Gebiet ist. Trotz guter Hörgeräte ist es sehr von der Situation abhängig, wie gut ich Menschen verstehe oder nicht.
Es kommt hinzu, dass es für Außenstehende nicht leicht zu erkennen ist, welche Situationen für mich einfach und welche schwierig sind.
Bei einem Rollstuhlfahrer ist es offensichtlich. Auf einem glatten, gepflasterten Bürgersteig wird er vermutlich keine Probleme haben voran zu kommen. Genauso offensichtlich ist, dass ein Bergwanderweg über Stock und Stein für ihn nicht zu meistern sein wird, egal wie gut sein Rollstuhl ist. Bei Schwerhörigkeit gibt es ähnliche Situationen, aber die Außenwelt versteht selten welches unsere glatten Bürgersteige und welches unsere Bergwanderwege sind.
Neulich habe ich einen neue Kollegin kennengelernt. Das erste Gespräch mit ihr hatte ich in einem gut beleuchteten Besprechungsraum; es gab keine Hintergrundgeräusche und es waren nur wir beide im Raum. Da das die perfekte akustische Umgebung für mich ist, konnte ich sie mit Leichtigkeit verstehen und wunderbar mit ihr plaudern.
Ein paar Tage später traf ich sie wieder, diesmal in unserer Kantine zur Mittagszeit. Unser Team saß zusammen an einem Tisch. Die Kantine ist eingerichtet wie eine typische Kantine: glatte, einfach zu reinigende Böden, Hartplastikstühle. Keine Möbel, Teppiche, oder Sitzkissen die Echos absorbieren könnten. Um uns herum Dutzende andere Kollegen. Geklapper von Geschirr und Besteck. Viele Gespräche gleichzeitig. Für mich ist das die akustische Königsdisziplin. Meine Hörgeräte arbeiteten hart, die Gespräche meines Teams hervorzuheben und die der anderen Kollegen auszublenden. Aber das funktionierte halt nicht perfekt.
Meine Kollegin saß schräg gegenüber von mir und versuchte mehrfach mit mir ein Gespräch zu führen. Ich konnte akustisch nicht mithalten, wendete mich irgendwann nur noch meinem Essen zu und vermied Blickkontakt. Zwischen all dem Lärm und den Kollegen die gleichzeitig kauen und sprechen saß ich wie so oft teilnahmslos in der Gruppe.
Auf dem Rückweg zum Schreibtisch in einem ruhigen Flur fragte mich die Kollegin ob es mir gut gehe, ich sei so still gewesen. Ich erklärte ihr die Situation. Ihre Augen wurden immer größer. “Ich habe bei unserem ersten Treffen gar nicht gemerkt, dass du nicht gut hören kannst. Heute erschienst du mir wie ein anderer Mensch.”
Während wir noch sprachen, ging eine andere Gruppe Kollegen an uns vorbei Richtung Kantine. Sie lachten und unterhielten sich laut. Die Kollegin redete weiter mit mir, als hätte sich nichts geändert. Akustisch gesehen fühlte ich mich als hätte man mich im Rollstuhl einen Berghang runtergeschubst. Ich zeigte auf meine Ohren um anzudeuten, dass sie pausieren muss, bis die Gruppe vorbeigegangen ist. Ich seufzte. Wie schwer kann es sein?
Hi, wieder sehr anschaulich Geschildert wo die Probleme liegen.
Habe auch die richtige Einstellung noch nicht gefunden!
Aber wir bleiben Positiv 🤔
Danke für den Einblick in Deinen Höralltag. Die beschriebene Situation im Gang ist sicher eine, die häufig vorkommt und schwer mit Hörsystemen zu kontrollieren. Einerseits, weil das Hörsystem nicht weiss, was Du genau hören willst und andererseits, weil die Situation „zu kurz“ ist.
Mein Tipp: Halte Deine Hand VOR das Ohr, wenn Du Lärm kurzfristig abblocken willst. Die Reduktion ist zwar nur leicht, kann aber helfen.
Hallo Helga,
ich fühle das Bild, welches du zeichnest, sehr. Als Hörgeräteträger und Bergsportbegeisterter.
Super interessanter Blog, hab dich grad entdeckt und finde es extrem spannend mich durchzulesen.
Weiter so und liebe Grüße, Martin