Neulich bin ich in eine andere Dimension geraten. Ich sass bei Freunden zu Besuch zum Pizza essen und quatschen. Völlig aus dem Zusammenhang sagte jemand “Hey, kannst du dich noch daran erinnern? Das war der Hit auf Michis Geburtstag.” oder “Bei dem war ich mega verliebt in Kathrin.” Anscheinend entging mir etwas. Beim dritten seltsamen Satz fragte ich: “Wovon redet ihr?”
Die Antwort war offensichtlich – wenn man gut hört. Es war das Küchenradio, welches Hits der 90er spielte. Meine Freunde haben die Musik während des Gesprächs gehört und Lieder unserer Jugend erkannt. Ich hatte nicht wahrgenommen, dass das Radio überhaupt angeschaltet war, geschweige denn welche Musik lief. Mein Hörgerät hatte sie als Hintergrundrauschen unterdrückt.
Moderne Hörgeräte machen viel mehr als nur “lauter”. Sie sind Computer, die intelligent versuchen, den Ton zu analysieren und vermeintlich Unwichtiges herauszufiltern. Dabei fokussieren sie sich auf Sprache, denn das Ziel einer Hörgeräteversorgung ist es, kommunikationsfähig zu sein. Meine Hörgeräte hatten ganz pflichtbewusst die Sprache meiner Freunde durch ihre Filter gelassen und die Musik als unwichtiges Hintergrundgeräusch gedämpft. So war die komplette musikalische Information an mir vorbeigegangen.
Gut hörende Menschen können gleichzeitig Sprache verstehen und Musik genießen. Sie nehmen alle Signale wahr und ihr Gehirn entscheidet, auf was sie sich in dem Moment konzentrieren möchten. So können sie dem Gespräch folgen, aber auch den Hits der 90er lauschen – und relativ schnell dazwischen umschalten. Hörgerätetragende sind hier in einer anderen Situation. Theoretisch kommen auch beide Signale an unseren Hörgeräten an. Aber wenn die Hörgeräte diese gleichwertig in unseren Bereich des Resthörens verstärkten, würde es sehr schwer sein, diese Signale voneinander zu unterscheiden. Unser Gehirn könnte sich kaum auf eins der beiden konzentrieren. Hörgeräte entscheiden sich meistens dafür, die Sprache zu verstärken. Aber das ist nicht immer das (einzige), was wir hören möchten.
Dieses Problem besteht besonders bei Sprache und Musik. Wir möchten Sprache verstehen und Musik genießen. Die Algorithmen, die Sprache verständlich machen, machen Musik aber nicht schön, weil sie viel verzerren und manche Frequenzen nicht zulassen. Es gibt aber auch Hörgeräte-Programme, die auf Musikgenuss optimiert sind. Durch sie ist Sprache wiederum nicht gut zu verstehen. Die meisten Hörgeräte bieten beide Programme an, aber entweder muss man als Tragender manuell zwischen diesen umschalten, oder eine künstliche Intelligenz tut das. Letztere weiss aber eben nicht, was du gerade wirklich hören möchtest und sie schaltet auch nicht so schnell um wie das menschliche Gehirn.
Dieses Problem tritt in mehr Situationen auf, als viele denken: eine Abend mit Freunden in einer Bar mit Musik, eine Filmszene mit dramatischer Musik und gleichzeitig wichtigem Dialog, ein Rockkonzertbesuch mit einem Freund, der dich nach deinem Getränkewunsch fragt.
Wir Hörgerätetragende können Sprache und Musik hören, aber wir müssen uns für das eine oder andere entscheiden: ich nenne das gerne unser Entweder-Oder-Problem.
Seit Anfang 2022 schreibe ich als freie Autorin für das Dezibel. Dieser Artikel ist ursprünglich in der Dezibel Ausgabe 2024 Nr. 2 erschienen. Dezibel ist die Mitgliederzeitschrift von Pro Audito, der führenden Anlaufstelle für die 1,3 Millionen Menschen mit Schwerhörigkeit in der Schweiz, http://www.pro-audito.ch.