Eine Kindheit mit Schwerhörigkeit
Seit Anfang 2022 schreibe ich als freie Autorin für das Dezibel. Dieser Artikel ist ursprünglich in der Dezibel Ausgabe 2022 Nr. 4 unter dem gleichen Titel erschienen. Dezibel ist die Mitgliederzeitschrift von Pro Audito, der führenden Anlaufstelle für die 1,3 Millionen Menschen mit Schwerhörigkeit in der Schweiz, http://www.pro-audito.ch.
Im Juni diesen Jahres ist das Buch „El Taubinio“ von Cece Bell erstmals auf Deutsch im Loewe Verlag erschienen. Das Original namens „El Deafo“ hatte schon 2014 auf Englisch im Abrams Verlag. Das Buch ist eine autobiographische Erzählung im Comic-Stil, auch Graphic Novel genannt, d.h. sie stellt die Geschichte zugleich in Bildern und in Worten dar. Das Buch wurde auch in einer dreiteiligen Mini-Zeichentrickserie auf Apple+ umgesetzt.
El Taubinio ist die Geschichte der Autorin Cece Bell, welche in 1970ern in den USA aufwächst. Dabei ist Cece nicht nur irgendein Kind, sondern ein Kind welches im Alter von vier Jahren sein Gehör aufgrund einer Krankheit verlor. Das Buch beginnt zu genau dieser Zeit und der Erzählstil in Comic-Form illustriert ihre Situation sehr eindringlich, denn auf einmal sind die Sprechblasen ihrer Mitmenschen noch da, aber sie bleiben leer.
Es folgt Ceces Weg durch ihre Kindheit, von der Vorschule bis hin zur Mittelschule. Dabei erlebt sie vieles von dem was wir alle in unserer Kindheit erlebt haben: wie man Freunde findet und verliert, wie man die Schule meistert, wie man sich nach einem Umzug in einer neuen Nachbarschaft einfindet, und wie man sich dem Klassenkamerad nähert für den man eine Schwärmerei hat. Das alles erlebt Cece und dabei begleitet sie immer ihre Schwerhörigkeit.
Durch die Schwerhörigkeit ist jede dieser Situationen nicht mehr so einfach. Mehrfach steht Cece vor der Frage ob sie wirklich Zeit mit ihren Freunden verbringen will oder ob sie dann doch lieber einsam ist. Immer wieder sind schmerzhafte Situationen eine Thema, in denen Cece mitten unter Menschen doch nicht dazu gehört: sei es wenn sie die Songs aus dem Radio nicht mitsingen kann, beim gemeinsamen Fernsehen der Handlung nicht folgen kann oder beim Übernachten bei Freunden nicht mehr mitreden kann sobald das Licht ausgeht und sie die Hörgeräte zum Schlafen herausnehmen muss.
Trotz vieler Situationen die nachdenklich machen, ist Ceces Geschichte alles andere als trübselig. Cece erlebt viele schöne Sachen und meistert viele Situationen trotz ihrer Schwerhörigkeit. Gelegentlich sieht sie eben diese auch als Vorteil, zum Beispiel wenn sie die Lehrerin belauschen kann, die mit dem Mikrophon ihrer Höranlage den Raum verlassen hat. Dann fühlt sich Cece auf einmal wie eine Superheldin, die etwas kann was ihre Klassenkameraden nicht können. Das ist der Tag wo sie sich Superhelden-Namen “El Taubinio” gibt.
Meiner Meinung ist El Taubinio ein sehr gelungenes Buch zum Thema Schwerhörigkeit und wie man damit umgeht. Die Tatsache, dass es die autobiographische Erzählung einer schwerhörigen Autorin ist, macht es authentisch und schonungslos ehrlich. Der Comic-Stil ist zum einen niedlich anzusehen, aber auch ein sehr gutes Stilmittel um die Welt eines schwerhörigen Mädchens darzustellen. Die Personen im Buch sind nicht menschlicher Gestalt, sondern Hasen. Ein Zeichen dass Ohren einfach ein sehr großes Thema in ihrer Welt sind.
Man sollte meinen, dass alles etwas überholt ist, denn das Buch spielt vor 30-40 Jahren. Dem ist nicht so, denn die sozialen Aspekte einer Hörbehinderung sind immer noch die gleichen. Das Tragen von Hörgeräten kommt auch heutzutage mit einem Stigma. Wir Schwerhörigen müssen auch heute oft noch schmerzhaft akzeptieren, dass unser Leben nun einmal mit anderen Herausforderungen kommt als die von hörenden Menschen. Wir müssen lernen, mit der Situation, der Technik, und unserer Umwelt umzugehen. All das sind Themen in Ceces Geschichte und sie sind die gleichen in unseren Leben.
Was sich in der Zeit natürlich und glücklicherweise deutlich verbessert hat, ist die konkrete Technik der Hörhilfen. Wo Cece ein klobiges Kästchen um den Hals und Kabel am Ohr tragen musste, sind wir mittlerweile mit viel kleineren Geräten und kabelloser Technologie gesegnet. Als technikaffiner Mensch, welcher erst Ende der 2000er Jahre in den Genuss von Hörgerätetechnologie gekommen ist, weiss ich diesen Fortschritt zu schätzen. Was mich allerdings auch beim Lesen von El Taubinio gefreut hat, ist, dass die Autorin den Entwicklern ihres “Schulhörgerätes” (heute wäre es eine Kombination aus Hörgeräten und FM-Anlage) explizit für die Entwicklung des Gerätes dankt. Auch wenn es klobig war, so hat dieses Gerät Cece zur Superheldin bei ihren Klassenkameraden gemacht. Möge uns diese Widmung daran erinnern, dass auch heute viele Menschen an der Entwicklung unserer Hörhilfen beteiligt sind und ihr bestes geben, damit wir teilhaben können.
Ich finde “El Taubinio” ein sehr gelungenes Buch, weil es einfühlsam und unterhaltsam das Leben mit Hörverlust in allen Facetten darstellt. Auch wenn in den USA Behinderungen oft euphemistisch benannt werden, so wird Cece zwar zur Superheldin, aber das ist eigentlich nicht das Hauptthema der Erzählung. In seinem hübschen Comic-Gewandt ist diese Erzählung selten übertrieben positiv, sondern vor allem schonungslos und ehrlich. Es werden ernste Themen aufgezeigt und viele Missverständnisse um das Thema Hörverlust aufgeklärt, z.B. wie sehr Cece als Schwerhörige von der Funktion ihrer Technik und der Mitarbeit ihrer Umgebung abhängig ist und dass nicht jeder Schwerhörige Gebärdensprache lernen muss oder möchte.
Es ist ein Buch in dem sich viele von uns Schwerhörigen wieder finden werden und zugleich ist es auch ein Buch, welches auf entzückende Weise auch unser Umgebung erklärt, wie unsere Welt funktioniert – oder eben auch nicht funktioniert. Sollten Sie also noch kein Weihnachtsgeschenk für Ihre Lieben haben, so sei Ihnen dieses Buch ans Herz gelegt.