Unbeabsichtigt Barrierefrei

Neulich stand ich bei uns im Supermarkt an einer Selbstbedienungskasse. Das sind diese Stationen neben den regulären Kassen, wo ich als Kunde meine Waren selbst scanne und mit Karte bezahle. Ich nutze diese Kassen gerne, denn sie sind für mich barrierefrei. Ich kann hier einkaufen, ohne dass ich hören muss. Ich muss nicht verstehen, ob der Kassierer fragt, ob ich eine Treuepunktekarte habe oder eine Plastiktüte möchte. Ich muss mich nicht konzentrieren, um zur richtigen Zeit zu lächeln und “ja” oder “nein” zu sagen. Ich muss nicht auf das Display schielen, um zu wissen, wie viel ich bezahlen muss, wenn ich mal wieder den Betrag nicht verstanden habe.

Ähnliche Entwicklungen gibt es vielerorts. 

  • Bei den großen Burger-Fastfood-Ketten gibt es Bestellterminals, wo ich meine Bestellung aufgebe, per Karte bezahle und dann nur noch darauf warten muss, bis über der Ausgabetheke die richtige Nummer angezeigt wird. 
  • Ich bin froh, für eine Tischreservierung nicht mehr in einem Restaurant anrufen zu müssen, wo mich ein gestresster Mensch umgeben von lauten Hintergrundgeräuschen nach meinem Namen fragt. Stattdessen tippe ich meinen Namen nun in ein Internet-Formular ein. Und seit ich das mache, finde ich meinen Namen auch öfter richtig geschrieben auf einem “Reserviert”-Schildchen wieder.
  • Wenn ich verreise, muss ich nicht mehr an einem Schalter mein Reiseziel zu sagen. Ich muss auch nicht mehrfach nachfragen, weil die Angestellte hinter der Panzerglasscheibe zu leise redet und am Schalter keine Höranlage installiert ist. Stattdessen klicke ich mir meine Bahntickets im Internet, ohne dass ich dafür hören muss.

Keine dieser Entwicklungen wurde mit dem Ziel geschaffen, meine Welt barrierefreier zu machen. Stattdessen sind es Effekte der Digitalisierung und Rationalisierung. Die Barrierefreiheit für Menschen mit Schwerhörigkeit ist ein unbeabsichtigter Nebeneffekt.

Man kann es natürlich kritisch sehen, dass das eigentliche Ziel war, menschliche Arbeitskraft zu ersetzen und Kosten zu sparen. Auch sind diese Dinge nicht für jeden zugänglich, z.B. für Blinde sind Touchscreens nicht nutzbar und nicht jeder ist technisch versiert genug, um das Internet zu benutzen. Manchmal frage ich mich, ob ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, weil ich diese Dinge gerne nutze. Ob ich es indirekt schuld bin, dass auch der letzte menschliche Kassierer bald durch ein Computerterminal ersetzt wird.

Andererseits gibt es so viele Gelegenheiten, wo man Jobs für Menschen schaffen könnte, um Menschen mit Behinderungen besser an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Zum Beispiel Gebärdensprachdolmetscher: davon gibt es zu wenige und es wird einem auch noch schwer gemacht, diese zu nutzen. Hier könnten wir als Gesellschaft Jobs schaffen, aber tun es nicht. Und das, obwohl wir Menschen mit Behinderungen das immer wieder fordern.

Also nein, ich habe kein schlechtes Gewissen. Als Mensch mit Behinderung finde ich es oft frustrierend, dass Dinge nur bewusst barrierefreier gemacht werden, wenn wir lange und viel dafür kämpfen. Da nehme ich es auch mal mit, wenn Dinge aus anderen Gründen unbeabsichtigt barrierefreier werden.

Seit Anfang 2022 schreibe ich als freie Autorin für das Dezibel. Dieser Artikel ist ursprünglich in der Dezibel Ausgabe 2025 Nr. 2 erschienen. Dezibel ist die Mitgliederzeitschrift von Pro Audito, der führenden Anlaufstelle für die 1,3 Millionen Menschen mit Schwerhörigkeit in der Schweiz, http://www.pro-audito.ch.

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